Saisonstart am Münchner Residenztheater:Insignien einer bedeutungsvollen Leere

Saisonstart am Münchner Residenztheater: Leidende, lästernde Unglücksfrauen: Vorne sitzen Sophie von Kessel, Hanna Scheibe und Luana Velis (v.l.), hinten rechts steht Brigitte Hobmeier.

Leidende, lästernde Unglücksfrauen: Vorne sitzen Sophie von Kessel, Hanna Scheibe und Luana Velis (v.l.), hinten rechts steht Brigitte Hobmeier.

(Foto: Sandra Then)

Andreas Becks Intendanzstart am Münchner Residenztheater geht in die zweite Runde: Gorkis "Sommergäste" sind ein Schaulaufen des Ensembles. "Olympiapark in the Dark" erlauscht sich die Stadt.

Von Christine Dössel

Resi-Eröffnung, zweite Runde. Nach dem gelungenen Auftakt der Intendanz von Andreas Beck am Bayerischen Staatsschauspiel in der letzten Woche gab es nun die nächsten beiden Premieren: Maxim Gorkis "Sommergäste", inszeniert von dem im deutschen Theater eher unbekannten Briten Joe Hill-Gibbins und die Uraufführung "Olympiapark in the Dark", entwickelt von dem hierzulande durchaus bekannten, da schon dreimal zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Schweizer Nebelkünstler Thom Luz.

Das eine: ein Klassiker der Moderne, großes Ensemblestück, uraufgeführt 1904 in Sankt Petersburg, am Vorabend der russischen Revolution von 1905. Eine Beschreibung der bürgerlichen Intelligenzija, die satt und faul auf ihren Datschen abhängt, lamentiert und debattiert, aber nichts von den akuten Entwicklungen und Erfordernissen ihrer Zeit kapiert. Das andere: eine musikalische Annäherung an München in tastend-tappender, klang- und, ja, buchstäblich taktvoller Form. Gewissermaßen das Aperçu zum Neuanfang.

Gorkis "Sommergäste" verlangen natürlich die große Residenztheater-Bühne. Diese hat Johannes Schütz, der Grandseigneur unter den deutschen Szenografen, auf bewährte, aber auch schon etwas oft gesehene Weise mit den Insignien einer bedeutungsvollen Leere in einen Schütz-Kosmos verwandelt. Also: erlesene Verlorenheit im Licht eines einsamen Bodenscheinwerfers, der um das Geschehen herum unablässig seine Kreise zieht, es mal von hinten bescheint, mal von der Seite, mal frontal von vorne. Die Bühne wirkt riesig, ein weißer Guckkasten ohne Rückwand, der Hintergrund schwarz, in der Mitte, auf einer Drehscheibe: ein weißer Quader, der, wenn er sich dreht, ein Duschraum ist.

Geduscht wird öfters an diesem Abend, man weilt auf dem Land, kommt vom Baden, die Männer zeigen sich mit nackten Oberkörpern. Auf der Bühne liegt Zeug herum, Flaschen vor allem, leere Kästen, Müll. Es wird sehr viel Bier getrunken. Das "Plopp" der Bügelverschlüsse ersetzt den kaum vorhandenen Soundtrack. Hin und wieder flackert ein russischer Schwarzweiß-Film auf; in den Aktübergängen klingt russisch-revolutionäre Filmmusik an. Aber das macht wenig Sinn, ist die Inszenierung doch weit weg vom historischen Hintergrund unaufdringlich im Hier und Jetzt verankert, was sich an der Kleidung, an Gerätschaften wie dem Macbook und nicht zuletzt an einem stattlichen Holzkohle-Kugelgrill festmachen lässt.

Die Figuren sind gut situierte Vertreter des Mittelstandes - und eines Stillstandes

Einmal klingt an, dass die Chinesen die Firma des Unternehmer-Onkels (Michael Goldberg) aufgekauft haben. Dezidierte Hinweise auf gesellschaftspolitische Umwälzungen von heute jedoch, etwa durch die Neue Rechte oder den Klimawandel, gibt es nicht. Die hat man automatisch im Kopf, sieht man die unpolitischen Nichtstuer da vorne auf der Bühne so großspurig vom "Menschen" reden und immer nur sich selbst bedauern.

Alles wie bei Tschechow, nur nicht ganz so tragisch und nicht ganz so komisch und nicht ganz so gut. Schon gar nicht, wenn es einem Regisseur wie Joe Hill-Gibbins nicht gelingt, die Figuren stark einzuführen und ihre Beziehungen aufzubauen und psychologisch zu unterfüttern. Bei ihm ist immer alles ganz unvermittelt da, wird vieles mehr behauptet als erspielt, und das leider oft klischeehaft. Das ist ein Problem an diesem ausgesprochen konventionell erzählten Abend, der - als sei er innen hohl - Oberflächenprofile bedient und kaum Atmosphäre schafft; oft viel zu verwuselt, vernuschelt und leise ist, dann plötzlich übertrieben laut und aufgekratzt. Ein Abend, in den man schwer hineinfindet, während dem man gelegentlich auf die Uhr schaut und aus dem man nach pausenlosen zwei Stunden weitgehend ungerührt wieder herausgeht. Sodass man ihn insgesamt als das nimmt, wofür er wohl grundsätzlich gedacht ist: als Vorstellungsrunde und Schaulaufen des neuen Ensembles, von dem immerhin 14 Mitglieder beteiligt sind. Schauspielerinnen und Schauspieler, denen man schon deshalb gerne zusieht, weil man sie kennen und, ja, lieben lernen möchte.

Drei gute alte Resi-Bekannte sind dabei: Sophie von Kessel und Aurel Manthei spielen das einander entfremdete Ehepaar Suslow, beide überraschungsfrei, da nach dem Typecasting-Prinzip besetzt, also sie: hübsch-kokett scharwenzelnd, er: mal wieder der Lederjacken-Prolet, wenn auch diesmal als Ingenieur. Dazu der sonst oft so famose Thomas Lettow, dem in der Rolle des täppischen Rjumin nicht nur der Selbstmordversuch am Ende, sondern irgendwie auch die Komik missglückt.

Auch die Protagonistin kennen - und lieben - die Münchner bereits: Brigitte Hobmeier spielt (als Gast) jene Warwara Michajlowna, die am meisten unter Lebensschmerz und dem larmoyanten Geschwätz der anderen leidet; die es besser weiß, aber eben auch nicht besser macht. Der Regisseur hat ihr eine oberstrenge Haltung und eine Leichenbittermiene verordnet, dazu spricht sie in einem so verhaltenen Ton, als habe sie einen (Trauer-)Kloß im Hals. Auch viel Verachtung schwingt mit. Hobmeiers unbändige Kraft ist daher stark gezügelt, aber immer wenn sie durchbricht ("Ich war mal anders. Hallo!"), ist es toll.

Der Abend von Thom Luz im Marstall ist kleiner, magischer und feiner

Warwaras Mann, den Anwalt Bassow, spielt Robert Dölle als gutmütiges Riesenbaby von eher schlichterem Gemüt. Ein Hausherr, der sich als Grillmeister aufspielt, Liegestütze übt und seine Frau eine "Puritanerin" nennt. "Evolution, nicht Revolution", lautet seine Losung. Sein Schwager Wlas ist bei Christian Erdt ein hypermotorisch herumkaspernder Poser, Spaßdichter und Hosenrunterlasser. Die Verzweiflung nimmt man ihm so wenig ab wie seine Liebe zu der deutlich älteren Ärztin Marja, einer gestandenen Frau und allein erziehenden Mutter (Katja Jung mit ernüchterter Wuschelkopfintelligenz). Schöne Lästerjeremiaden der Unzufriedenheit steuert Hanna Scheibe als Arztgattin Olga bei, als desperate houswife ein Ausbund an Verbitterung: "Es ist ein einziges Martyrium, Frau und Mutter zu sein." Dabei ist sie die einzige, die mit ihrem Mann (Thomas Reisinger) noch so etwas wie Sex hat. Der unvermeidliche Schriftsteller in der Plapperrunde heißt Schalimow, ist "zu Tode erschöpft" und kennt seinen Leser nicht mehr. Vincent Glander spielt ihn als literarischen Softrockstar, der mangelndes Charisma mit offenem Hemd ausgleicht. Des weiteren wirken mit: Luana Velis als Kalerija, Jungdichterin mit leider verschenktem Stöhngedichtvortrag, Enea Boschen als rotziges Gör und Valentino Dalle Mura als gelegentlicher Gitarrist. Ihnen allen brachte das Premierenpublikum tosenden Applaus entgegen. Ausdruck Münchner Willkommenskultur. Mindestens.

Der Abend von Thom Luz im verschönerten Marstall ist kleiner, magischer und feiner. Er mutet an, wie von Christoph Marthaler erdacht. Keine Nebelmaschinenproduktion diesmal, nur ein Dunstschleier in der Luft. Er gebiert ein "Bild in Klängen" auf Grundlage der experimentellen Komposition "Central Park in the Dark" (1906) des Musikpioniers Charles Ives. Ein Kammerorchester spielt, wie sich ein Stadtpark bei Nacht anhören könnte. Bei Luz und seiner Künstlerkapelle (musikalischer Leiter: Mathias Weibel) wird das bezogen auf den Olympiapark. Der kommt allerdings erst am Ende des 100-minütigen Abends ins Spiel: in Videos vom Olympiaberg und seiner Begehung durch das Musikensemble und schließlich als polyphones Klangpuzzle in einem Neonrahmen, gefügt aus den Geräuschen, Tönen, Satz- und Musikfetzen, die bis dahin live auf der Bühne produziert wurden. Das Hören der Schlusskomposition bietet daher lauter schöne Wiedererkennungseffekte, wo am Anfang doch alles fremd und nicht durchschaubar war. Das ist das Warme an diesem Lauschangriff auf München, die neue Stadt. Es geht sehr lustig und geschäftig los mit einer Führung der Neuankömmlinge über die Bühne, geleitet von der langjährigen Resi-Schauspielerin Barbara Melzl. Dann richten sie die Bühne her und sich darin ein, acht Klangerzeugende, außer Melzl: Mareike Beykirch, Elias Eilinghoff, Christoph Franken, Camill Jammal, Mara Miribung, Daniele Pintaudi und Noah Saavedra. Sie schaffen plappernd Stehleitern, Kästen und Lautsprecher heran, stimmen Geigen, Celli, Kontrabass, streichen und streiten, flanieren und musizieren assoziativ durch die Stadtgeschichte, reißen Münchner Momente an, musikalische Vorkommnisse. Das Glockenspiel, Oskar Maria Graf, Karl Valentin. Hier der kleine Albert Einstein, dort das Arbeitslosenorchester im Hofbräuhaus. Hitler, Jubelklang und "Gut Heil". Es ist ein sensibler Abend, kein intelligibler, skurril versponnen und versonnen und am Ende: angekommen.

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