"Saf" im Kino:Der gute Mensch von Fikirtepe

"Saf" im Kino: Wütend auf ihr hartes Leben im Armenviertel: Remziye (Saadet Aksoy) und Kamil (Erol Afşin).

Wütend auf ihr hartes Leben im Armenviertel: Remziye (Saadet Aksoy) und Kamil (Erol Afşin).

(Foto: Real Fiction Verleih)

Das türkische Drama "Saf" erzählt die Verzweiflung eines jungen Paars in einem Armenviertel Istanbuls, über dem schon die Abrissbirne schwebt.

Von Lisa Oppermann

Es hängt eine Wolke von Lärm und Staub über dem Istanbuler Stadtteil Fikirtepe, in dem Kamil und seine Frau Remziye in einem der kleinen Häuser leben. Die Türen sind zum Teil Plastikplanen, den Gemüsegarten teilen sie sich mit den Nachbarn. Kamil (Erol Afşin) hat keine Arbeit, Remziye (Saadet Aksoy) putzt das Haus einer reichen Frau. Und sie ist schwanger: Wenn sie Bauchkrämpfe hat, drückt Kamil ihr feuchte Lappen auf die Stirn und träumt von einer Zukunft, in der er ein Kinderzimmer an das Haus anbaut und sie sich keine Sorgen machen müssen. Doch Remziye unterbricht die Träumereien hart: "Du weißt, dass sie uns nicht hier wohnen lassen werden."

"Sie" sind der Grund für die Wolke des Lärms: Immobilien-Investoren, die ein paar Hundert Meter weiter schon Kamils Freunde aus ihren Häusern gezwungen haben, die jetzt nur noch Schutt unter Baggerschaufeln sind. Bald klopfen die Männer wohl auch an ihre Türen, fürchten Kamil und Remziye, mit den Geldscheinen in den Taschen und den Angeboten, die man nicht ablehnen kann. Der Baulärm hängt wie eine ständige Erinnerung in der Luft: Bald ist alles vorbei. Bald seid ihr auch weg.

Eine Gesellschaft, in der die Hoffnungslosigkeit das Menschliche aufgefressen hat

Doch Kamils Geldsorgen sind so groß, dass er einen Job bei genau diesem Unternehmen annimmt. Er fährt die Bagger ohne Führerschein und für weniger Geld als üblich, denn den Job übernimmt er von dem Syrer Ammar (Kida Ramadan), nachdem der sich verletzt hat. "Die Syrer", heißt es unter den Arbeitern auf der Baustelle, unterwandern die von türkischen Bauarbeitern ausgehandelten Tarife, arbeiten für zu wenig Geld. Und Kamil ist jetzt einer von ihnen: Zwar kein Syrer, aber die Kollegen schlagen mit der gleichen Wut auf ihn ein.

Wütend sind sowieso alle in "Saf", meist auf Kamil, der zuweilen wirkt wie der letzte gute Mensch von Istanbul in einer Gesellschaft, in der die Hoffnungslosigkeit das Menschliche aufgefressen hat. Remziye ist wütend, weil ihr Mann so naiv ans Gute glaubt, die Nachbarn, weil er für den großen Feind arbeitet und den Gemüsegarten nicht anständig gießt, Ammar, weil er den Job zurückwill, um seine Familie zu ernähren.

Der Regisseur und Drehbuchautor Ali Vatansever inszeniert den Strudel aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, der Remziye und Kamil immer weiter in die Tiefe zieht, außergewöhnlich intensiv. Es ist ein ständiger Wechsel zwischen den aufgeregten Dialogen, den Worten der anderen, die an den Protagonisten zerren, und der überwältigend einsamen Müdigkeit, wenn sie sich allein durch die nächtlichen Straßen schleppen.

Man sieht Menschen dabei zu, wie sie einander zerfleischen

Das türkische Wort "Saf" hat mehrere deutsche Übersetzungen: "echt" oder "rein" kann es heißen, "naiv" oder "gutgläubig". Oder auch: "Stellung beziehen". Stellung müssen sie beziehen, Entscheidungen treffen, die Reinen, die Naiven, die Gutgläubigen. Remziye muss entscheiden, ob sie ihre Kollegin verleumdet, um neben dem Putzen auch deren Job als Kindermädchen übernehmen zu können. Kamil, auf welche Seite er sich stellt, zu seinem Viertel hält und zu seinem Arbeitgeber. Und er muss irgendwo Geld herbekommen, um den Baggerführerschein zu bezahlen und seine so verhasste Arbeit nicht zu verlieren.

Am Ende sieht man Menschen dabei zu, wie sie einander zerfleischen, obwohl sie gemeinsam am Abgrund stehen. Und erkennt: Vielleicht kann niemand von ihnen gut sein in einer Welt, in der die Menschen nur Störfaktoren oder Werkzeug gesichtsloser Investoren sind.

Saf, Türkei 2018 - Regie und Buch: Ali Vatansever. Kamera: Tudor Vladimir Panduru. Schnitt: Evren Lus. Mit: Erol Afşin, Saadet Aksoy, Kida Khodr Ramadan. Real Fiction, 102 Minuten. Kinostart: 24. Februar 2022.

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