Süddeutsche Zeitung

Sachbuch:Wie richtig sitzt der Backenzahn!

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Im vorwissenschaftlichen Raum des klassischen Zeitalters wird die Geschichte der Natur interessant. Heinrich Detering untersucht, wie die Ökologie zwischen Poesie, Theologie und Schwärmerei entstand.

Von Christoph Bartmann

Der Mensch erscheint im Holozän, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er sein Habitat als Gegenstand der Wissenschaft entdeckt. "Ökologie", mit diesem Kunstwort bezeichnet der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel 1866 eine noch zu entwickelnde "Lehre vom Naturhaushalt", eine "Oeconomie der Natur", die von den "Existenz-Bedingungen" des Lebendigen handeln soll. Ein Jahrhundert später artikuliert sich in Begriffen wie Umwelt und Environment die neue Sorge der Menschheit um ihre natürlichen Lebensgrundlagen.

Die Literatur - nicht unbedingt die "schöne" Literatur, sondern eher das "Schrifttum" - hat das Feld des Ökologischen schon viel früher beobachtet. Sie tut dies ergiebig in einem Zeitraum, der von den Dreißigerjahren des achtzehnten bis zu den Fünfzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts reicht. Wie sie das tut und warum so intensiv gerade in diesem Zeitraum, das ist Gegenstand von Heinrich Deterings großer Studie "Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Literatur in der Ökologie von Haller bis Humboldt".

Michel Foucault hatte sich in seiner "Ordnung der Dinge" (1966) über Leute mokiert, die eine Geschichte der Biologie im 18. Jahrhundert schreiben wollten. Man sei sich wohl nicht darüber im Klaren, dass zu jener Zeit so wenig eine Biologie existiert habe wie überhaupt deren Gegenstand: das Leben. "Es existierten lediglich Lebewesen, die durch einen von der Naturgeschichte gebildeten Denkraster erschienen." Auch Detering will nicht darauf hinaus, dass "seine" Autoren (Haller, Brockes, Lichtenberg, Linné, Novalis, Goethe, Humboldt und andere) etwa die Ökologie "entdeckt" hätten. Es gibt keine Ökologie "avant la lettre", ja vielleicht nicht einmal "après", jedenfalls nicht in einem den exakten Wissenschaften vergleichbaren Sinne.

Bei Carl von Linné verbindet sich exakte Wissenschaft mit kritischer Sorge

Vielleicht unterhält ja die intuitive Wortschöpfung des Freidenkers Haeckel ohnehin ein Nahverhältnis zu den Künsten. Im Namen der Ökologie können sich Literatur oder bildende Kunst ermutigt fühlen, einen Beitrag zur Erforschung des Naturhaushalts zu leisten. Vieles von dem, was man heute N ature W riting nennt, braucht den Begriff Ökologie ohnehin nicht als Bezugsgröße. Der Unterschied zu der historischen Konstellation, von der Deterings Buch handelt, ist dieser: Damals standen dem "von der Naturgeschichte gebildeten Denkraster" noch keine ausdifferenzierten Naturwissenschaften gegenüber. Solange diese nicht existierten, durften sich mehr oder minder dilettierende Naturforscher und Universalgelehrte für ein gutes Jahrhundert als Wissenschaftler aus eigenem Recht verstehen, auch wenn sie Literatur schrieben. Man kann, wie Detering, die These vertreten, das Wissen dieser naturkundlich informierten Literatur sei "in keinem einzigen Fall einfach überholt und erledigt".

Nun, literarisch "erledigt" ist bestimmt keiner der Autoren, aber manche ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis darf man durchaus als überholt bezeichnen. Schon deren Zeitgenossen stießen sich an der "lobpreisende(n) Affirmation des Bestehenden", wie sie Barthold Heinrich Brockes in seinem neunbändigen Lehrgedicht "Irdisches Vergnügen in Gott" (1720 - 1748) durchexerzierte. "Bewundre doch, o Mensch, dieß Wunder! Stell' es dir/dem Schöpfer, ders gemacht, doch öfters für!", heißt es da. Das sinnhafte Walten des lieben Gottes wird für Brockes sichtbar in dem "Wunder", das Schneide- und Backenzähne im Mund genau richtig und nicht etwa verkehrt herum angeordnet seien. Andere der ausgewählten Autoren bestehen den "test of the time" besser, vor allem Carl von Linné. Was wäre die moderne Botanik ohne den schwedischen Naturforscher und seine neuartige binäre Nomenklatur? Ein Dichter war Linné nur am Rande, aber dies nicht zu seinem Nachteil. Als "ökologischer Abenteurer", wie Detering ihn nennt, reist er etwa 1734 zu den Minen im lappländischen Falun und ist zutiefst alarmiert von den dort beobachteten Schäden für Natur und Menschen. Bei Linné verbindet sich exakte Wissenschaft mit kritischer Sorge, es ist fast wie bei einem Ökologen von heute.

Auch wenn die hier gründlich referierten und (ausgiebig) zitierten Autoren ein forschendes Interesse an "Natur" vereint, so treten die Unterschiede zwischen ihren Positionen doch stärker hervor als die Gemeinsamkeiten. Frühaufklärerische Naturforschung wie in dem folgenreichen "Alpen"-Gedicht des Schweizer Physiologen und Botanikers Albrecht von Haller, geistliche Erbauung durch poetische Schöpfungsexperimente wie bei Brockes, frühe Erkundungen im Industriegebiet bei Linné, Lichtenbergs "geologische Phantasien" und versuchsweise durchgespielte Weltuntergänge, frühromantische Bergwerksmythologien bei Arnim und Novalis, schließlich die spekulativen Metamorphosen Goethes und Alexander von Humboldts "ökologische Poetik" - was hält sie zusammen?

Sicher, es handelt sich durchweg um Literatur, aber der Begriff kann zur Schreibzeit dieser Autoren kaum mehr Kohärenz spenden als die Rede von einer "Entdeckung der Ökologie". Wir erleben ab etwa 1730, wie sich deutsch schreibende, überwiegend protestantische Autoren allmählich aus dem Bann der Theologie lösen und "Natur" als Aufgabe einer forschenden Poesie oder poetischen Forschung in den Blick nehmen, bis dann die Naturwissenschaften den forschenden Part übernehmen und auch die Poesie den Pfad der Empirie verlässt, um etwas anderes zu werden, vielleicht bürgerlicher Roman oder moderne Dichtung. In anderen Ländern und Kulturen muss die Entwicklung anders verlaufen sein, man denke etwa an Petrarca, der schon 400 Jahre vor Brockes (und ganz anders) seine Naturerlebnisse zur (literarischen) Sprache bringt.

"Weltgarten", das Wort selbst war, so Detering, in der Blütezeit der öffentlichen Gärten bereits gegenwärtig als Begriff für einen enzyklopädischen Lehrgarten. Goethe aber habe den Weltgarten in den Rang einer "Leitmetapher" erhoben, und zwar in seinem Bericht über einen Besuch im Botanischen Garten von Palermo im Jahr 1787. Auf der Suche nach Bestätigung seiner Idee der "Urpflanze" tut sich Goethe hier der Weltgarten auf, als, in Deterings Worten, "die Gesamtheit aller aus dem Modell der 'Urpflanze' ableitbaren Pflanzen in ihren Metamorphosen, der Welt des Lebendigen in seiner Gesamtheit." Und er setzt fort: "Die Elegie soll den einzelnen Garten auf diese Gesamtheit hin durchsichtig machen. Und sie vermag das, weil sie Dichtung ist." Die Dichtung dürfe sich erlauben, was für die sich damals formierenden wissenschaftlichen Disziplinen unstatthaft sei: "Subjektivität, Emotionalität, spekulative Analogieschlüsse." Auch wenn Dichtung vieles vermag, entkommt sie nicht immer dem Schicksal, "veraltete Wissenschaft" zu werden (um ein Wort Heinz Schlaffers zu verwenden).

Das schmälert nicht ihr Verdienst: Im prä-disziplinären Raum des klassischen Zeitalters arbeitet sie mit an einer neuen Geschichte der Natur. Lebendiges, das immer schon vorhanden war und immer schon beschrieben oder angerufen wurde, wird nun systematisch geordnet und vermessen. Es sind, wie Foucault sagt, neue und "klare Räume, in denen die Dinge nebeneinander treten: Herbarien, Naturalienkabinette, Gärten".

Am glücklichsten ist diese poetische Naturkunde dort, wo sie die Praktiken des Ordnens und Vermessens mit denen des Reisens und Sammelns vereint. So beschreibt Deterings Schlusskapitel über Alexander von Humboldt auch Höhepunkt und Abschluss der ökologischen Ära der (deutschen) Literatur. Auch wenn es auf den Vorarbeiten von Haller bis Goethe fußt, öffnet Humboldts "Nature Writing" entschieden die Tür zur wissenschaftlichen und literarischen Modernität. Seine "die Welt vermessende Naturforschung" sei, so Detering, "untrennbar verbunden mit einer neuartigen, nicht mehr klassisch-elegischen, sondern prosaisch-modernen Naturdichtung" - und somit wahrscheinlich schon näher bei Lévi-Strauss als bei Brockes. In der Analyse Humboldts kann Detering dann auch seine leitende These von einer "ökologischen Poetik" eingelöst sehen, insofern hier (und erst hier, muss man sagen) "literarische" und "wissenschaftliche Erneuerungskraft" sich gegenseitig beflügeln. Das erklärt auch, warum der Autor des "Kosmos", der "Ansichten der Natur" oder der "Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse" langsamer oder glücklicher altert als mancher seiner hier versammelten Kollegen, und warum ihm im Zeichen des Anthropozäns, des Nature Writing und des Ecocriticism so viel Aufmerksamkeit zuteil wird.

Wohnt nun aber der ökologischen Poetik, gemäß ihrer theologischen Frühgeschichte, ein Quantum Naturfrömmigkeit fast unvermeidlich inne? Fast möchte man es meinen, wenn man sieht, wie Detering sein Buch enden lässt, mit einem Zitat nämlich aus Humboldts Bericht über "Das nächtliche Thierleben im Urwalde" von 1849, worin Humboldt nachts in jedem Strauch und jedem Baum die "vielen Stimmen der Natur" zu hören meint, "vernehmbar dem frommen, empfänglichen Gemüthe des Menschen."

Heinrich Detering: Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 458 Seiten, 36,90 Euro.

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SZ vom 11.05.2020
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