Sachbuch:Wie binden die Jemeniten ihre Strümpfe?

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Carsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern. Mit Anmerkungen und einem Vorwort von Frank Trende. Die Andere Bibliothek, Berlin 2018. 668 Seiten, 79 Euro. (Foto: dd)

Carsten Niebuhrs "Reise nach Arabien" prägte den Blick der Deutschen auf die Welt, auch Goethe und Schiller haben den Reisebericht gelesen. Jetzt ist er wieder zu haben.

Von Stefan Weidner

Als vor zweieinhalb Jahrhunderten die Aufklärung in Europa an Fahrt gewann, rückte der Orient in den Mittelpunkt des Interesses. Ein Grund dafür war der veränderte Blick auf die Bibel, deren Wahrheitsgehalt an den Originalschauplätzen überprüft werden sollte. Auf Initiative des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis wurde eine vom dänischen König finanzierte Expedition über Ägypten und das "glückliche Arabien" der Antike, in den Jemen, entsandt. Der bibelwissenschaftliche Auftrag wurde auf andere Forschungsgebiete erweitert, und 1761 brachen ein Sprachwissenschaftler, ein Botaniker, ein Geograf, ein Maler, ein Arzt und ein Bediensteter zu einer Reise auf, von der sechs Jahre später nur ein einziger zurückkehrte: Carsten Niebuhr (1733 - 1815), der Geograf.

Seine mehrbändige Reisebeschreibung, ab 1772 erstmals erschienen, nun in einem Folioband mit Illustrationen aus der Originalausgabe wieder aufgelegt, machte Furore. Noch der alte Goethe erbat sich von Niebuhrs Sohn ein Autograf des Forschungsreisenden. Schiller las ihn auf dem Krankenbett. In Carsten Niebuhr hatte die Aufklärung ihren heimgekehrten Odysseus, ihren Helden gefunden. Niebuhrs Werk ist nicht nur ein einzigartiges Dokument über die globale Sattelzeit, sondern ein noch heute mit Vergnügen lesbarer, überaus erhellender Lagebericht.

Auf der Flucht vor der Malaria landete Niebuhr in Bombay und besichtigte statt der Altertümer urplötzlich die eigene Gegenwart in Gestalt des anhebenden britischen Kolonialismus. Noch in der Beschreibung des Rückwegs durch Iran, Irak, Syrien und schließlich den Balkan bleibt Niebuhr seiner Chronistenpflicht treu. Er schreibt stets nüchtern und sachlich, ohne die stilistischen Flausen, die alte Texte heute oft schwierig machen. Nicht selten thematisiert er die eigenen Vorurteile. Er versteht es hinzuschauen und sich auf die ungewohntesten Situationen einzulassen.

Der Effekt ist verblüffend. Man lernt, wie das, was wirklich noch den Namen 'Orient' verdiente, sich damals tatsächlich ausnahm. Man begreift aber auch, was Reisen in früheren Zeiten bedeutete und warum sich niemand freiwillig auf den Weg in die weite Welt machte. Zwar sind "die Araber nicht so fürchterlich, als wir Europäer sie gemeiniglich finden", aber wegen der Räuber bewegt man sich doch am besten "nach morgenländischer Manier", das heißt in Karawanen. Dann aber reiste es sich im "Haus des Islams" sogar einfacher: "Pässe, Zölle und andere Ursachen, wodurch die Reisenden in Europa so oft angehalten werden, hielten uns gar nicht auf, wir wurden nicht einmal darnach gefragt."

Da aber sonst nur Kaufleute und Pilger reisten, schien es unvorstellbar, dass die Europäer mit Botanisiertrommel und Astrolabium nur deswegen durch die Gegend zogen, um Wissen zu sammeln: "Man konnte nicht begreifen, wie wir so viel Geld verzehren könnten ohne etwas zu verdienen, man muthmaßete wir könnten Gold machen, und der Botanicus sey deswegen immer auf den Bergen (...) Auch meyneten sie daß ich heimliche Künste verstehen müßte, weil ich die Sterne oft beobachtete." Schließlich tarnten sich die Reisenden, geben sich als orientalische Christen aus. Seine Vermessungen stellte Niebuhr nach Möglichkeit heimlich an.

Der Blick, mit dem Niebuhr auf die Welt schaut, entstammt unverkennbar der anhebenden Aufklärung. Das immer wiederkehrende Wort für diese neue Unbefangenheit lautet "Neubegierde"; es wäre mit "Neugier" allzu platt in unsere Zeit übersetzt. "Neubegierde" kommt vielmehr einem plötzlichen Erwachen, sich Wundern gleich. Überlieferung und angelerntes Wissen zählen wenig. Alles, was einem auf der Reise begegnet, ist seltsam und interessant, denn wozu es am Ende nützt, kann man nicht wissen. Das betrifft die Art, wie die Jemeniten ihre Strümpfe binden, ebenso wie die Tatsache, dass die Hindus ein Hospiz für sterbende Tiere betreiben oder eine Liste der wichtigsten Wörter in den damals gängigen fünf Balkansprachen.

Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Reisenden den archäologischen Hinterlassenschaften, die in Ägypten überall herumlagen. Beim Abzeichnen von Hieroglyphen kommt es zum Menschenauflauf: "Bald hatte ich eine Menge Zuschauer, aber keiner sagte mir ein böses Wort, sie wunderten sich vielmehr über die Neubegierde der Europäer, vornehmlich darüber, dass ich alle Figuren ebenso nachzeichnen konnte, wie sie auf dem Kasten stunden." Niebuhr reflektiert diesen Prozess sehr genau. Mithilfe seiner Kopien könnten die Gelehrten in Europa die Hieroglyphen später in Ruhe entziffern. Er weiß aber auch, dass dies den Ägyptern nicht behagt und man "in den Morgenländern bei Abzeichnung der Altertümer oft Hindernisse erwarten" muss. Wenn man dreist genug ist, gelinge es trotzdem: "Aber sie sind eben nicht gefährlich, und deswegen muss man sie nicht achten, wenn man nur seinen Endzweck erreichen kann." Das klingt zunächst harmlos. Aber der Moment des Übergriffs und der Missachtung anderer, der in der Aufklärung mithin schon früh angelegt scheint, ist hier direkt benannt.

Niebuhrs Bericht liegt genau auf der Scheidelinie der Epochen und bietet damit eine äußerst seltene Perspektive: Wie der sich öffnende europäische Geist die Welt entdeckt und kartografiert, bevor er sie im Lauf dieses Prozesses fundamental verwandelt, aufteilt und neu zusammensetzt. Heute haben wir nicht nur diese alte Welt verloren, sondern auch den unbefangenen Blick auf sie. Genau in dem Maß, in dem dieser Blick seiner Macht bewusst geworden ist, hat er seine Unschuld verloren und ist nicht mehr nur Blick, sondern Ermächtigung, wie sich bereits bei Niebuhr vereinzelt andeutet.

Drei Jahrzehnte nach Niebuhr eroberte Napoleon Ägypten und vollendete mit seiner groß angelegten "Description de l'Égypte" nicht nur die Beschreibung und Datensammlung, die Niebuhr und die seinen begonnen hatten. Er vollendete auch die von Niebuhr nur philologisch betriebene europäische Aneignung und Plünderung des alten Ägyptens, die uns heute in Gestalt der Diskussion um die Restitution von Kunstschätzen wieder einholt.

Als Schiller 1798, im Jahr von Napoleons Ägyptenfeldzug, Niebuhrs Reisebeschreibung liest, findet er etwas, das darin gar nicht angelegt, aber für die Kehrtwende des europäischen Blicks bezeichnend ist: Statt "Neubegierde" eine große Unzufriedenheit mit dem, was diese außereuropäische Welt zu bieten hat. Schiller schreibt an Goethe: "Welche Wohltat es (...) ist, in Europa geboren zu sein. Es ist doch wirklich unbegreiflich, dass die belebende Kraft im Menschen nur in einem so kleinen Teil der Welt wirksam ist, und jene ungeheuren Völkermassen für die menschliche Perfektibilität ganz und gar nicht zählen."

Mit diesem hochproblematischen Begriff von Entwicklung und Fortschritt konnte Schiller die Welt, die Niebuhr schildert, bereits nicht mehr wirklich schätzen. Heute stößt die Weltanschauung, die im achtzehnten Jahrhundert so neu war und die Niebuhr schreibend und reisend durchlebte, allenthalben an ihre Grenzen. Wie Niebuhr stehen wir am Ufer einer neuen Zeit. An seiner Zuversicht, Offenheit und "Neubegier" können wir uns ein Beispiel nehmen.

© SZ vom 02.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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