Süddeutsche Zeitung

Sachbuch:Marktkonforme Biografie

In der autobiografischen Essaysammlung "Der Ruf der Horde" huldigt der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa dem wirtschaftlichen Liberalismus.

Von Sebastian Schoepp

Mario Vargas Llosa hat eine harte Zeit hinter sich: Seinen letzten Büchern war wenig Erfolg beschieden, und auch politisch lief es für den Nobelpreisträger, der in seinem Heimatland Peru mal Präsidentschaftskandidat war, lange schlecht. Lateinamerika wählte hartnäckig links, nimmermüde schrieb Vargas Llosa gegen diesen Trend an in den großen Gazetten der spanischsprachigen Welt. Dort ist er längst bekannter für seine Kolumnen als für seine Romane. "Ein diskreter Held", "Das Paradies ist anderswo" enttäuschten vielfach Leser und Kritik. Mit den Altherrenfantasien in "Die Enthüllung" näherte sich der Autor endgültig dem Schund. Geschrieben war diese dünne Krimi-Plauderei nicht mehr für ein literarisches Weltpublikum, sondern bestenfalls für die Latino-Oberschicht von Miami.

Doch in letzter Zeit hat Vargas Llosa wieder Grund zur Freude. Die Linkspopulisten sind weg oder in Diktaturen abgeglitten. Selbst in Peru, wo er 1990 als Präsidentschaftskandidat die Wahl verlor, hätten sich seine liberalen Ideen letztlich durchgesetzt, stellt er in seinem neuen Buch "Ruf der Horde" fest. Diese Wende scheint den alten Mann mit neuer Energie erfüllt zu haben. "Der Ruf der Horde" erreicht phasenweise die alte Brillanz, allerdings ist es kein Roman, sondern seine "intellektuelle Autobiografie", wie der 83-Jährige es nennt. Darin beschreibt er seine Abkehr von der Linken und seinen Weg zum Liberalismus.

Vargas Llosa stellt seine Jahre als Marxist wie eine Jugendverirrung dar, er schildert kurz, wie er als junger Reporter in Kuba dem Charisma der "Bärtigen" verfiel, die dort Revolution gemacht hatten: "Ich war tief ergriffen". Das änderte sich, als die Revolution zur maroden Institution wurde und Fidel Castro Schriftsteller zu verfolgen begann. Eine Reise in die UdSSR sei "ein traumatisches Erlebnis" gewesen: "Konnte ich ein Gesellschaftsmodell weiter verteidigen, wo ich nun wusste, dass ich selbst niemals so hätte leben können?"

Der größte Teil der westlichen Welt lebt Individualismus heute selbstverständlich

Vargas Llosa lebte fortan lieber in London oder Madrid als in Moskau oder Havanna; mit der gleichen Hingabe, mit der er dem Marxismus gehuldigt hatte, ließ er sich nun von Margaret Thatcher bezaubern. Und er begann, liberale Philosophen zu lesen, die Vordenker der marktliberalen Revolution, die nach 1989 die Welt eroberte, und um diese Denker geht es in dem Buch. Vargas Llosa schildert die Gedanken von Adam Smith bis Friedrich August von Hayek elegant und mit gebotener Tiefe.

Sie sind es wert, gelesen zu werden, diese Kurzbiografien von Leuten, die in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt sind, obwohl ihre Thesen unsere Zeit mindestens so geprägt haben wie die von Karl Marx die 1960er-Jahre. In Zeiten, in denen die Linke in den Parlamenten praktisch keine Rolle mehr spielt und man an der Urne gerade noch die Wahl hat zwischen Rechtspopulisten und einem liberalen Block, der im Prinzip alle anderen einschließt, möchte man schon wissen, wem man diese Umwälzung letztlich zu verdanken hat.

Der größte Teil der westlichen Welt lebt liberale Werte und Individualismus ja heute selbstverständlich und unhinterfragt, so als habe sich alles irgendwie von alleine ergeben. Das war im Grunde auch genau im Sinne etwa von Friedrich August von Hayek, jenem nach England emigrierten Österreicher, dessen Gedanken den Weg für den Thatcherismus bereiteten. Vargas Llosa nennt ihn seinen wichtigsten Inspirator. Erst Hayek habe ihm erklärt, "was der Markt ist, nämlich ein nahezu unendliches System von Beziehungen unter den Menschen einer jeweiligen Gesellschaft untereinander, um auf diese Weise gegenseitig ihre Bedürfnisse und Wünsche zu kommunizieren und die Produktion und die Mittel, die zu ihrer Befriedigung notwendig sind, zu organisieren." Keiner, so findet Vargas Llosa, habe besser die "Vorteile beschrieben, die dem Menschen dieses Austauschsystem gebracht hat, das von niemandem erfunden wurde, das vielmehr entstanden ist".

Jede Zeile verströmt den Odem von Vargas Llosas privilegierter Herkunft

Staatliche Lenkung, Wohlfahrt, Subventionen verurteilt der Nobelpreisträger als "Konstruktivismus", also störenden Eingriff in das sozusagen naturgegebene Spiel der Kräfte, das nur dazu da sei, das Individuum und seine Kreativität einzuhegen. Ein Individuum wie Vargas Llosa aber bringt es zum Nobelpreis, weil er seine Freiheit zu gestalten in der Lage ist. Der größte Feind der Freiheit, so der Autor, sei denn auch jener "Ruf der Horde", wie es Karl Popper genannt hat, also der Hang des Menschen, sich tribalistisch Bewegungen anzuschließen, einem Führer zu folgen oder auf die vermeintlichen Vorteile einer Herkunft zu beharren.

Fast alle Autoren, die Vargas Llosa zitiert, sind zu ihren Schlüssen aus den traumatischen Erfahrungen mit den kollektivistischen Systemen des 20. Jahrhunderts gekommen, also Faschismus und Kommunismus. Sie waren Emigranten wie Isaiah Berlin oder Raymond Aron, die einen freien Markt für den Garanten gegen Diktatur hielten. Nur Hayek ging so weit, den freien Markt wichtiger als die Freiheit zu finden, weshalb er die Pinochet-Diktatur in Chile guthieß. Es ist das Einzige, was Vargas Llosa seinem Vorbild wirklich übel nimmt.

Am nächsten kommt man dem Denken Vargas Llosas aber in dem Kapitel über José Ortega y Gasset, jenen elitistischen spanischen Philosophen, der in den 1920er-Jahren den "Aufstand der Massen" als etwas eher Ekelerregendes beschrieb, weil der politische Massengeschmack seine ästhetischen Kriterien beleidigte. Jede Zeile des Kapitels über den abgehobenen Spanier verströmt den Odem von Vargas Llosas privilegierter Herkunft aus der Oberschicht des postkolonialen Peru. Sie war es letztlich, die Vargas Llosa mit dem Privileg ausgestattet hat, Ideologien wahlweise auszuprobieren und dann wieder zu verwerfen - um schließlich zum Eigentlichen, zu seinen Ursprüngen zurückzukehren. Das ist denn auch die wahre Erkenntnis aus diesem Buch: Seiner Horde entkommt man schwer, Mario Vargas Llosa ist ihr nie entkommen. Alles dazwischen war Episode. Immerhin eine, die der Weltliteratur einst große Werke beschert hat.

Mario Vargas Llosa: Der Ruf der Horde. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 313 Seiten, 24 Euro.

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SZ vom 06.06.2019
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