Süddeutsche Zeitung

Sachbuch:Kaum versteht man die Moderne, ist sie zu Ende

Lesezeit: 5 min

Der Soziologe Dirk Baecker legt eine großartige Theorie der Digitalisierung vor. Gegen alle Kulturkritik erklärt er noch einmal - ohne Illusionen, aber auch ohne Angst -, dass die Medialität stets schon zum Menschsein dazugehört.

Von Johan Schloemann

Seit zwanzig Jahren googlen wir. Seit gut zehn Jahren hat sich das mobile Echtzeit-Internet durchgesetzt. Wir sitzen in einem Café irgendwo in der Welt, werden sofort geortet und von irgendeiner Menschmaschine aus Kalifornien gefragt, ob wir es bewerten wollen. Das Netz ist absolut normal und absolut unfassbar. Wir stecken alle mittendrin, deswegen finden die einen schon banal und alltäglich, was die anderen noch dramatisch finden. Und deswegen ist es längst kein Fall mehr nur für Internetexperten, sondern für die allgemeine Kulturtheorie. Sie muss versuchen, wenigstens vorläufig zu verstehen, was gerade passiert, was die Digitalisierung mit uns macht und was wir mit ihr machen.

Auf der einen Seite steht ein beliebtes Beschwichtigungsargument. Es behauptet die mehr oder weniger mühelose Adaptionsfähigkeit unserer bisherigen Kultur und beruft sich damit auf das "Rieplsche Gesetz", wonach neue Medien alte Medien nicht verdrängen, sondern ergänzen. Diese medienhistorische Faustregel hatte im Jahr 1913 der Zeitungsjournalist und Altphilologe Wolfgang Riepl in seiner Dissertation über das Nachrichtenwesen in der Antike aufgestellt. Da sich aber das "Nachrichtenwesen", also die gesamte mediale Kommunikation, seit dem Jahr 1913 doch nicht ganz unerheblich verändert hat, um nicht zu sagen revolutioniert, wachsen inzwischen die Zweifel an dieser Ergänzungsthese: Das allumfassende Netz könnte ja doch etwas anderes sein als das Nebeneinander von Faxgeräten, Fernsehern und Bücherregalen. Und die Pausenlosigkeit dieses Netzes - immer Netflix abrufbar, bei jedem Schritt Facebook in der Hand - scheint dann doch das Zeitbudget, das dem Menschen für ungeteilte Aufmerksamkeit zwischen Aufstehen und Zubettgehen zur Verfügung steht, und überhaupt das ganze Zusammenleben noch einmal ganz anders anzugreifen, als es frühere Medien getan haben.

Also entstehen auf der anderen Seite Interpretationen, die das Gegenteil von Beschwichtigung betreiben. Sie rufen: Disruption! Vergesst alles, was ihr gelernt habt, wir werden nichts mehr wiedererkennen, es gibt fast keine anthropologischen Konstanten, kein Stein bleibt auf dem anderen. Diese Sicht der Digitalisierung sagt Apokalyptikern ebenso zu wie Digitalunternehmern, die das Heil auf Erden versprechen und in der schöpferischen Zerstörung Geschäftschancen sehen. Das sind die beiden Extreme, die sich auch nicht selten berühren, wenn nämlich die Opportunisten unserer Zeit Beschwichtigung und Technik-Adventismus verbinden.

Weiter kommt man mit einem Modell, wie es der Soziologe Dirk Baecker jetzt in seinem Buch "4.0" entwirft. Es ist, um es gleich zu sagen, eine fulminante Theorie der digitalen Transformation. Man darf sich nicht davon verwirren lassen, dass diese Abhandlung, der Gegenwart angemessen, ein wenig experimentell und spekulativ daherkommt und im kultig-aparten Merve-Verlag erscheint, also in einer ganz anderen Präsentationsform als all jene Disruptions- und Zukunft-der-Menschheit-Spitzentitel, die in den Flughafenbuchhandlungen ausliegen. "Die Theorie darf nicht schlüssiger auftreten als die Gesellschaft, der sie gilt", findet Dirk Baecker. Und doch enthält dieses Buch so viele Einsichten, kluge Beobachtungen und Referenzen, dass der Rezensent sich fast auf jeder Seite so lange Stellen angestrichen hat, bis er mit dem Anstreichen irgendwann aufhören musste.

Baecker, ein flexibler Systemtheoretiker und Schüler Niklas Luhmanns, geht davon aus, dass sich die Gesellschaft in und mit Medien verändert, aber auch formiert. So hat er keinen Zweifel daran, dass die digitale Vernetzung eine epochale Veränderung bringt: "Man hat in den letzten zweihundert Jahren kaum begonnen, die moderne Gesellschaft in all ihrer Unwahrscheinlichkeit zu verstehen, da muss man sich schon wieder von ihr verabschieden." Aber diese Analyse gewinnt erst Schärfe, indem Baecker sie gegenschneidet mit den drei vorangehenden Medienepochen: der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit und dem Buchdruck. Diesen drei Epochen entsprechen die frühen Stammeskulturen (1.0), die Hochkulturen des Altertums (2.0) und die Neuzeit mit ihren pädagogischen, industriellen und demokratischen Revolutionen (3.0).

Die Gesellschaft musste in der Vergangenheit jeweils mit den einschneidenden Wirkungen der neuen Weisen der Kommunikation umgehen lernen, die sich aber zugleich überlagerten, vermischten und dies bis heute tun. Das heißt: Auch in der Ära des Internets sprechen wir noch von Angesicht zu Angesicht miteinander (1.0), wissen von heiligen Schriften, Gesetzen, Epen, Orakeln (2.0) und verwenden das gedruckte Wort für Kritik, Wissenschaft, Bildung und Aufklärung (3.0). Dirk Baecker ist dabei klar, dass sein Schema schematisch ist: "Historiker, die zu Recht auf Differenzierung bestehen, kann man nur um Verständnis bitten." Doch gerade die Kontrastierung in diesem Buch lässt viel klarer erkennen, was an unserer sprunghaften Bildschirmexistenz wirklich neu ist.

Baecker fasst das an einer Stelle so zusammen - Achtung, für die Lektüre dieses Zitats ist ein bisschen vordigitale Konzentration vonnöten -: "Mit jedem Medium tritt ein Problem der Möglichkeit und Verknüpfung von Kommunikation auf, das die vorherige Epoche nicht hatte. Die Entdeckung der Anwesenheit des Abwesenden mit der Sprache, das Ertragen des Gewichts der Zeit in den Buchstaben und Zahlen der Schrift oder die Diffusion eines kritischen Vergleichswissens mit dem Buchdruck sind je unterschiedliche Probleme und doch in der Hinsicht der Überforderung der überlieferten Struktur und Kultur der Gesellschaft mit dem Kontrollproblem vergleichbar, das mit den elektronischen und digitalen Medien aufkommt. Zudem sind die früheren Medienprobleme nicht etwa gelöst und vergessen, sondern beschäftigen nach wie vor auch die aktuelle Gesellschaft."

"Noch nie war mehr Mittelbarkeit im scheinbar Unmittelbaren."

Wem das zu abstrakt ist, der kann sich dann an die konkreteren Beschreibungen der Digitalisierung halten, die im Laufe dieses Buches, gut systemtheoretisch, in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft durchgespielt werden - Arbeit, Liebe, Politik, Architektur, Sport und so weiter. Mit dem "Kontrollproblem" oder auch "Kontrollüberschuss" meint Baecker einen generellen Zug der digitalen Gesellschaft: Wenn wir ständig durch und mit Maschinen kommunizieren und das Leben organisieren (lassen), dürfen wir die Komplexität und Undurchschaubarkeit dieser Vorgänge nicht als einen behebbaren Mangel sehen, sondern rechnen gewissermaßen dauerreflexiv damit. Ein Beispiel: "Die Timeline eines Accounts in einem digitalen Netzwerk ist attraktiv, weil und solange sie überrascht und auf Weiteres, inklusive der Prinzipien der Auswahl, neugierig macht. (...) Der Nutzer lässt sich kontrollieren, weil er selbst Kontrollmöglichkeiten hat. Auf beiden Seiten ist eine eindeutige und zuverlässige, Ursache und Wirkung bestimmende Kontrolle unmöglich."

Gegen alle Kulturkritik - wenn auch nicht ohne gelegentliche düstere Töne, besonders angesichts von digitaler Überwachung und vorauseilendem Konformismus - erklärt Dirk Baecker noch einmal, ohne Illusionen, aber auch ohne Angst, dass die Medialität stets schon zum Menschsein dazugehört. Aber sie wird im Hagel von Meldungen, die uns als alle gleich dringlich anspringen, und durch lernende Rechner in vorher unvorstellbarem Maß gesteigert: "Noch nie war mehr Mittelbarkeit im scheinbar Unmittelbaren."

Besonders stark schildert Baecker, wie sich dadurch das Verständnis von Zeit völlig verändern dürfte: Vom Ziel Zukunft, das die moderne (Buchdruck-)Gesellschaft trotz aller Rückschläge und Missbräuche bis zuletzt immer noch im Blick hatte, hin zum "Zerfallszwang" der laufenden Aktualisierung. "Die Menschen werden derweil immer ungeduldiger. Sie erwarten die blitzartige Schnelligkeit digitaler Verbindungen (solange man die richtigen Internetanschlüsse hat) auch von jeder anderen Materie, mit der sie es zu tun haben. (...) Das Warten dauert zu lange, das Reisen wird zur Belastung, die Langeweile wird nicht mehr ausgehalten, jede Dienstleistung zu einer Strapaze für die Nerven. Man ist anderes gewohnt und muss sich mehr oder minder mühsam in einen Geisteszustand versetzen, der sozialen Rhythmen angemessen ist, die nicht elektronisch und digital vermittelt sind." Deswegen würden auch notwendig Erziehung und Bildung immer mehr durch Training und "Passförmigkeit der Inhalte" ersetzt.

Dirk Baecker, der seit dem Jahr 2011 als "@ImTunnel" twittert und seit 2015 in Witten-Herdecke lehrt, sieht die Untersuchung des "sozialen Abenteuers" Medienwandel als "Stresstest" seiner bisherigen Studien zur "nächsten Gesellschaft" an. Die Soziologie hat ja, schreibt er, "immer schon mit Netzwerken zu tun". Dass sich die Systemtheorie dabei womöglich in spekulativer Sozialpsychologie auflöst, ist eher ein methodisches Problem, das den allgemeinen Leser nicht groß interessieren muss. Jeder, der die Geduld noch aufbringt, sollte dieses Buch lesen, um die Digitalisierung schon mal ein wenig besser zu verstehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4141240
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 24.09.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.