Süddeutsche Zeitung

Sachbuch:Jenseits der Familienmoral

Viel Empörung, zu wenig Analyse: Der Journalist Christian Füller klagt Propagandisten der Pädophilie an.

Von Sven Reichardt

Es besteht kein Mangel an Faktensuchern, an öffentlicher Empörung und an bedrückenden Darstellungen. Durch Inszenierungen wie im preisgekrönten ARD-Spielfilm "Die Auserwählten" wurden die emotionalen Verstrickungen und Erpressungen, die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse an der Odenwaldschule eindrucksvoll offengelegt. Eine Schule, in der seit den Sechzigerjahren mindestens 132 Kinder zu Opfern sexueller Übergriffe geworden waren. Den Korpsgeist der Täter, die Schuld und Vertuschung pädosexueller Gewalt in der katholischen Kirche rückt der derzeit in den deutschen Kinos gezeigte Debütfilm "Verfehlung" ins Licht.

Dazu kommt ein investigativer Journalismus, der nicht nur dutzendweise pädophile Programmschriften bei den Grünen der Achtzigerjahre entdeckt, sondern auch viele pädosexuelle Übergriffe ans Tageslicht gebracht hat - etwa auf der Dachsbergkommune von Hermann Meer, dem nordrhein-westfälischen Landesvorstandsmitglied der Grünen. Journalisten konnten nicht nur bei Linksalternativen erschreckend pädophile Druckerzeugnisse finden, sondern auch bei Pro Familia oder beim Kinderschutzbund. Zahlreiche pädosexuelle Übergriffe konnten zudem bei jugendbewegten Gruppen, etwa auf der Burg Balduinstein im Rhein-Lahn-Kreis, nachgewiesen werden.

Einer dieser findigen Journalisten hat nun sein zweites Sachbuch zum Thema vorgelegt. Mit seinem ersten Werk über Kindesmissbrauch und Pädophilie, das sich mit den Vorgängen an der Odenwaldschule beschäftigte, hat sich Christian Füller als rigoroser Journalist erwiesen. Sein neues Buch enthält sehr unterschiedliche historische Fallstudien: von der Päderastie im antiken Sparta und bei der athenischen Oberschicht über die Wandervogelbewegung und bündische Jugend bis hin zur Geschichte der Reformpädagogik. Das Buch schließt mit Kapiteln über die Grünen und das linksalternative Milieu sowie mit Ausführungen über Chatrooms im Internet, die als pädophile Spielwiese genutzt werden. Jugendbewegte, Reformpädagogen, alt gewordene 68er, Grüne und das grooming pädophiler Chatter - das alles bringt Füller auf den Begriff "pädosexuelle Kampf- und Lobbyverbände". Die Tonlage ist dabei stets rabiat, aufgeregt, alarmistisch - etwa wenn pädophile Agitatoren bei den Grünen als "Schreibtischtäter" bezeichnet werden.

In seinem neuen Buch geht es Füller nicht um die oftmals versteckte oder verschwiegene Pädosexualität. Es geht vielmehr um pädophile Propagandisten, die ihr Verhalten öffentlich glorifizierten. Pädophile also, die sich als Kulturbringer oder Befreiungsideologen aufspielten. Das ist eine Form der offensiven Rechtfertigung, die sich in der katholischen Kirche so nicht finden lässt. Angefangen habe dieser Diskurs, so Füller, mit Platons Ausführungen zum Symposion. Durch das erotische Band der "Knabenliebe", schreibt Platon, seien Kriegstüchtigkeit und männliche Kameradschaft ebenso gestärkt worden, wie bei Sokrates die Erziehung erst durch den "pädagogischen Eros" erfolgreich geworden sei. Der Odenwalder Schulleiter Gerold Becker hat in seiner Amtszeit das hellenische Beispiel immer wieder bemüht - nicht zuletzt um seinen persönlichen Missbrauch von insgesamt 86 Jungen als edle pädagogische Tat auszugeben.

In linken Milieus wurde pädophiler Sex umgedeutet als "antifaschistische Großtat"

In der Wandervogeljugend war es der philosophierende Schriftsteller Hans Blüher (1888-1955), der einflussreiche Erfolgsbücher zur Bedeutung des homo- und pädophilen Eros vorlegte. Die ebenso hierarchische wie emotionale Bindung der Jugend an einen charismatischen Führer begründete, so Blüher, einen höher stehenden, einen erotischen Männerbund der "Freundesliebe", der die Voraussetzung für gelingende Staatenbildung sei.

Instruktiv ist, was Füller über den rührigen Schulreformer und begabten Rhetoriker Gustav Wyneken (1875-1964) und seine 1906 gegründete "Freie Schulgemeinde Wickersdorf" aufdeckt. "Pädagogischer Eros", so meinte Wyneken nämlich, sei "ohne irgendein automatisches Mitklingen der Sexualität" und ein "inniges Liebesbündnis" nicht möglich. Er wurde 1921 wegen des sexuellen Missbrauchs von Schülern mit einer Gefängnisstrafe belegt.

Im linksalternativen Milieu gab es zwar keine dementsprechenden Chefideologen, aber es gab die aggressiv auftretenden Agitatoren der Nürnberger Indianerkommune, den grünen Berliner Aktivisten Dieter Ullmann, rühriger Lobbyist und rechtskräftig verurteilter Pädosexueller, oder den Münchner Anarcho-Päderasten Peter Schult. Sie alle hatten in den Siebziger- und Achtzigerjahren immer wieder die "kleinbürgerliche Familienmoral" gegeißelt, der sie ein Modell entfesselter Sexualpraktiken entgegenhielten. Der "befreiten Sexualität" wurde ein nahezu revolutionäres Potenzial zugebilligt. Man propagierte das Märchen vom einvernehmlichen pädophilen Sex und stellte ihn, so Füller, als "antifaschistische Großtat" dar. Unter dem fiktiven Vorzeichen des freien Kinderwillens sollte Pädosexualität nicht mehr strafbar sein.

Was versteht man von der Jugendbewegung, wenn man sie als Pädophilenclub schildert?

Die Schilderung dieser pädophilen Diskurse ist der Kern des Buches. Überall findet Füller dabei einen "pädophilen Sumpf", den er "fest in der Lebenswelt" seiner Untersuchungsgegenstände integriert sieht. So baue die Reformpädagogik "direkt auf päderastischen Grundsätzen" auf, und die Grünen seien "durchsetzt von pro-pädophilen Gruppen aller Art".

In seinem Furor und der entschiedenen Verengung des Blicks schießt der Autor über sein Ziel hinaus. In Füllers Schwarz-Weiß-Bild kommt die historisierende Einordnung in übergeordnete Tendenzen viel zu kurz. Gerade diese Kontextualisierungen sind es aber, die den Erfolg der Pädophilen erklären können.

Was versteht man von der Jugendbewegung, wenn man diese vornehmlich als Pädophilenklub schildert? Drückte sich doch in der Jugendbewegung der Jahrhundertwende ein neuartiges Selbstbewusstsein aus, aus dem heraus Jugend als eine eigenständige Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein begriffen wurde. Die Jugendbewegung war Ausdruck gesellschaftlicher Kritik an der Hochindustrialisierung, sie war eine auf Freiheits- und Abenteuerdrang gründende Fluchtbewegung, Kritik an viktorianischer Enge, regulativer Verklemmung, autoritärer Erziehung. Was Pädophilie um 1900 bedeutete, kann man nur ermessen, wenn man die homosoziale Männlichkeitskultur des Kaiserreichs mit in den Blick nimmt. Ebenso wenig wird man den Aufstieg und die Grundstruktur der grünen Partei aus dem Geiste der Pädobewegung erklären können. Nicht nur, dass Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung ungleich wichtiger für den Erfolg der Grünen waren. Ohne eine Berücksichtigung des in den Siebzigerjahren nahezu allgegenwärtigen Sexualitätsversprechens wird man den Erfolg der "Pädos" bei den Grünen nicht verstehen können.

Am Ende sind es die ausgebreiteten Fakten, die aufgezählten Einzelfälle, die gelungene Darstellung einiger pädophiler Netzwerke zwischen Jugendbewegung und Reformpädagogik, nicht jedoch die Interpretationen, die dieses Buch auszeichnen. Christian Füller kommt über den vordergründigen Erkenntnismodus des Decouvrierens und Anklagens einfach nicht hinaus.

Sven Reichardt ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz. 2014 erschien im Suhrkamp-Verlag seine Studie "Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren".

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Quelle:
SZ vom 13.04.2015
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