Die Würde des Menschen ist antastbar. Es vergeht kaum eine Minute, in der sich dies nicht irgendwo auf der Welt zeigt. Von der Steinzeit bis zur Gegenwart zieht sich die Geschichte der Demütigung von Menschen. Bis heute werden Stigma und gesellschaftlicher Ausschluss als Waffen eingesetzt. Dabei galt und gilt: Je größer die Öffentlichkeit, desto größer die Scham, die sich einbrennt. Zweieinhalb Jahrhunderte dieser Geschichte des Wechselspiels zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Unterlegenheit und Unterwerfung hat Ute Frevert nun durchschritten. Die Leiterin des Forschungsbereichs "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin führt in überaus anschaulichen Schilderungen vor Augen, wie sich das Machtmittel Demütigung über die Epochen hinweg verändert hat: Wurden in der Vormoderne verurteilte Verbrecher öffentlich beschämt und unbotmäßige Schüler vor der Klasse lächerlich gemacht, so stellte die Aufklärung die bis dahin gängigen Praktiken von Pranger und Prügelstrafe infrage, da sie mit der damals neu entdeckten Würde des Menschen nicht vereinbar zu sein schienen.
Verbrecher in den USA müssen ihre Taten öffentlich kundtun
Zwar wirkt aus heutiger - zumindest europäischer - Perspektive weit entfernt, wie im Zuge des Imperialismus so manches Ritual diplomatischer Ehrerbietung zum Zankapfel wurde. Etwa der Kotau vor dem Kaiser von China, an dem sich europäische Gesandte noch Jahrzehnte später abarbeiten sollten. Aber auch im 21. Jahrhundert ist Demütigung als gezielt eingesetztes Instrument nicht verschwunden. Im Gegenteil: In den Vereinigten Staaten verurteilen Gerichte Menschen dazu, ihre Vergehen öffentlich kundzutun. Auch in Europa und in Deutschland sorgen mediale Pranger, ob analog oder digital, und die vielfältigen Veröffentlichungsmöglichkeiten des Internets dafür, dass öffentliche Beschämungen allgegenwärtig sind.
Woher kommt dieses die Jahrhunderte überdauernde Bedürfnis, andere Menschen vorzuführen und bloßzustellen? Was soll damit bezweckt werden? Welche Wirkungen entfalten sich? Warum ist dieses Phänomen selbst in Gesellschaften verbreitet, die Würde und Respekt als Werte hochhalten? Kehrt hier das "dunkle Mittelalter" immer wieder zurück? Oder ist es die "helle", aufgeklärte Moderne, die vielmehr eigene Beschämungsenergien freisetzt und neue Demütigungspraktiken einführt? Bei Frevert werden die vielen Konstanten der Geschichte der Demütigung sichtbar: Stets wurde und wird Macht demonstriert in öffentlichen Beschämungen. Indem man andere vor Augenzeugen in die Knie zwingt, wird der eigene Anspruch auf eine herausgehobene, machtvolle Position untermauert.
Dabei entwickelt Scham - dies beschrieben schon Philosophen in der Antike - ein Gefühl von ungeheuerer Wucht und Wirkmächtigkeit. Sie kann tödliche Folgen haben. Auch dem Weiterlebenden prägt sie sich meist unauslöschlich ein - wer sich einmal "in Grund und Boden" geschämt hat, wird dies nur selten vergessen. Entscheidend dafür ist die Anwesenheit und Zeugenschaft von Dritten. Frevert zitiert Psychologen, die Scham folglich als eine soziale oder interpersonale Emotion bezeichnen: Nur ein Sechstel von dazu befragten Menschen geben an, Scham als privates, selbstbezügliches Gefühl zu erleben. Entsprechend mächtig und gefährlich lässt Scham ihre soziale Einbettung werden: Aus Angst vor ihr riskieren Menschen immer wieder Kopf und Kragen - im wahrsten Sinne des Wortes.
Frevert illustriert nicht nur die Macht der Täter, das, was sie als Verstoß gegen eine Norm oder Erwartung betrachten, zu rügen und zu sanktionieren. Sie zeigt darüber hinaus die Macht der Zuschauer, sei sie imaginiert oder tatsächlich. Denn stets wird das Drama von Macht und Ohnmacht, Scham und Schande, Täter und Opfer auf öffentlichen Schauplätzen aufgeführt. Dabei kann das Publikum der Beschämung zustimmen und sie damit verschärfen. Oder es kann sich verweigern, wodurch sich dann die Machtverhältnisse umkehren können und die Beschämenden ihrerseits beschämt werden. Auch dafür liefert Frevert vielfaches Anschauungsmaterial, von punktueller Distanzierung bis zu breiter Kritik, von individuellem Protest bis zu kollektiver Revolte.
Beobachtet man diese öffentlichen Reaktionen, wird ein mehr oder weniger konkretes Wissen um frühere Beschämungspraktiken deutlich, dass im kollektiven Gedächtnis verankert und jederzeit abrufbar scheint. So vermutet Frevert sicherlich nicht zu Unrecht, dass heutige Journalisten angesichts von Fällen herabwürdigender Bloßstellungen, mit denen sie konfrontiert werden, an mittelalterliche Verhältnisse denken und deshalb oft den Vergleich zu Prangern und Schandsäulen ziehen. Auch das Wissen, dass geschorene Haare besonders bei Frauen ein geradezu archetypisches Signal sozialer Demütigung und Erniedrigung darstellen, hielt Einzug ins kollektive Gedächtnis.
Diesen Zeichen und Praktiken widmet Frevert den Großteil ihrer akribischen Untersuchung. Sie fragt dabei nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten, analysiert auffällige Konjunkturen und hitzige Kontroversen. Denn dass Beschämungsrepertoires hier wie dort seit langem bekannt und überliefert sind, bedeutet Freverts Erkenntnissen nach nicht, dass sie in gleicher Form und in ähnlichem Zusammenhängen auftauchen. Vielmehr folgt einer politischen Opportunität, die an gesellschaftliche Bedingungen und moralische Ökonomien rückgebunden ist, wer diese Beschämungsrepertoires wann gegenüber wem und zu welchem Zweck nutzt.
Das Mittel der Demütigung wird auch in der Politik weiterhin mit Erfolg eingesetzt
Die Ubiquität von Strategien, Praktiken und Schauplätzen von Beschämung, die Frevert aufzeigt, bezeugt zum einen deren anhaltende Attraktivität für die jeweils Mächtigen, nach Macht Strebenden und um Macht Kämpfenden. Zum anderen lässt sich hier erahnen, wie groß die Widerstände gegen eine "anständige", auf Demütigung verzichtende Gesellschaft waren und sind. Zugleich macht Frevert bewusst, dass selbst in liberalen Ordnungen sich Formen der Anprangerung und Brandmarkung erhalten oder neu gebildet haben, die mit Anstand und Würde wenig zu tun haben. Nicht nur ist seit dem späten 19. Jahrhundert der Begriff des Zeitungsprangers in Umlauf, für dessen ungebrochene Aktualität sich bei Frevert zahlreiche Beispiel finden - nicht zuletzt mit Blick auf die Praktiken der Bild-Zeitung. Auch zeigen die bisherige Geschichte der Partei Alternative für Deutschland und ihr Einzug in den Bundestag, dass Demütigung in der Politik weiter mit Erfolg eingesetzt wird.
Ob dieser Erfolg von Dauer sein wird, hängt auch hier davon ab, wie sich das Publikum verhält. Oder wie Frevert es prägnant in eine Frage fasst: "Macht es mit, klatscht es Beifall - oder wehrt und verwahrt es sich?" Die Geschichte ist hier nicht nur nicht zu Ende, wie Frevert bemerkt. Sie zeigt sich auch erneut offen - wieder einmal.