Merkel-Deuten ist in Deutschland ja ein Volkssport. Die dämlichen Spitznamen, die man sich über die Jahre für die Kanzlerin ausgedacht hat - "Teflonkanzlerin", "Eiskönigin", "Mutti" - zeigen, wie groß die Sehnsucht ist, die Regierungschefin als verstehbar zu kennzeichnen - und wie unerfüllbar.
Von wütenden Rassisten wird sie als "Volksverräterin" gebrandmarkt, obwohl sie als Bundeskanzlerin seit zehn Jahren ziemlich geradeaus und höchst erfolgreich wirtschafts- und machtpolitische Hegemonialinteressen Deutschlands in Europa verfolgt. Gerade im Zusammenhang mit ihrer Griechenlandpolitik wurde ihr das im vergangenen Jahr von vielen Kritikern auch heftig vorgeworfen. Doch seit ihrem "Wir schaffen das" im Spätsommer 2015 scheint - bei aller Polarisierung in den Wahlkabinen - der Kanzlerinnen-Konsens auch im letzten hinterlinken Eck angekommen zu sein.
In linksliberalen Online-Filterblasen, in zahlreichen flüchtlings- und einwanderungsfreundlichen Veröffentlichungen und sogar per Online-Petition, "Danke, Dr. Angela Merkel", wird die Politikerin, die vor wenigen Jahren unumwunden erklärte, dass "Multikulti total gescheitert" sei, für ihre Vernunft, Empathie und Weitsicht nicht nur gelobt, sondern - vielleicht erstmals in ihrer Karriere - aufrichtig geliebt. Wenn ihr nicht gerade liebenswürdiger Einfach-Drüber-Regier-Stil in der Sache Böhmermann nun vielen als Kuschen vor dem "Sultan aus Ankara" übel aufstößt, ist das nur ein weiterer Beleg für die mittlerweile hochintensive Bindung des Selbstbildes der Bevölkerung an die Bundeskanzlerin.
Julia Schramm galt einmal als Skandalnudel des politischen Betriebs
Diese öffentliche Stimmung ist in ihrer extremen Qualität und personalen Fixierung dermaßen deutsch, dass man zunehmend versucht ist, die These vom Sonderweg doch wieder aus der Mottenkiste zu holen. Und so ist es auch ein Spezifikum Deutschlands im Jahr 2016, dass eine selbst-erklärte antideutsche Linke wie die Autorin Julia Schramm (also eine, die sich am linken Flügel der Linken verortet) mit einer ironisch-distanzierten Fibel einer sozialdemokratischen Unionspolitikerin huldigt.
Einer der schönsten Essays in diesem Buch trägt dabei die Überschrift "Uckermark". Schramm beschreibt erst in schlichten Sätzen die Landschaft der Region, in der die Bundeskanzlerin bekanntlich ein Ferienhaus besitzt. Dann erzählt sie vom sogenannten Kartoffelbefehl des Alten Fritzen und sinniert über den abschätzigen Gebrauch des Wortes "Kartoffel" für "typisch deutsch" im Sinne von "Ey guck ma, voll peinlich die Kartoffel, Alter".
In der Uckermark, wo seit Friedrich II. Kartoffeln massenhaft angebaut werden, würden die Knollen jedoch als "Nudeln" bezeichnet, siehe auch die traditionellen "Uckermärkischen Nudel-Wochen" im Oktober. "Der Begriff 'Nudel' wird in anderen Gefilden noch für ungewöhnliche und ausgeflippte Frauen benutzt", schreibt Schramm, und weiter: " ,Die Nudel aus der Uckermark' hat aber vermutlich noch niemand über Angela Merkel geschrieben . . . " Für den Bogen vom Alten Fritzen bis zu der absurden Assoziation von Angela Merkel mit einer märkischen Nudel braucht Schramm genau einen Absatz. Stellen wie diese, die irgendwo zwischen essayistisch-aphoristischer Glanzleistung und Kifferhumor liegen, machen "Fifty Shades of Merkel" zu einem lesenswerten Buch. Zugleich ist Schramms Haltung zum eigenen Sujet so irrsinnig zeitgemäß, dass es streckenweise kaum auszuhalten ist.
Die Autorin galt selbst einst als Skandal-nudel des politischen Betriebs. Mit Mitte zwanzig war Schramm einer der jungen Stars der Piratenpartei, machte sich einen Namen mit Äußerungen über das "ekelhafte Urheberrecht" und verteidigte Anflüge politischer Wankelmütigkeit mit Hegel (derzeit arbeitet sie an einem Dissertationsprojekt über "Die Dialektik des Privaten"). 2012 erschien ihr erstes Buch - "Klick mich. Bekenntnisse einer Internetexhibitionistin" -, das nicht besonders gut besprochen wurde und vor allem Wellen schlug wegen einer Copyright-Klage, die Schramms Verlag aufgrund einer Online-Raubkopie lancierte, und Gerüchten über einen exorbitanten Vorschuss. Den Geschmack für leicht frivole Titel - mit "50 Shades of Merkel" überschrieb Buzzfeed eine Fotostrecke der Künstlerin Noortje van Eekelen, für die Bilder von Angela Merkel anhand ihrer jeweiligen Blazerfarben als Farbskala arrangiert wurden - ist geblieben, doch ansonsten ist Schramms "persönliche Merkel-Exegese" das Werk einer gereiften Autorin.
Die Person soll erkundet und nebenbei auch das Land porträtiert werden
Das Buch funktioniert ähnlich wie eine Klickstrecke: Kapitel für Kapitel blickt die Autorin auf unterschiedliche Facetten der Persönlichkeit Angela Merkels: "Leipzig", heißt ein Essay, andere "Humor", "Hosenanzug" oder "Nerd". Das Ergebnis sind teils ironische Abschweifungen, teils gewagte Huldigungen: "Karl Popper steht für den negativen Utilitarismus. In kurz: So wenig Leute wie möglich sollen so wenig wie möglich leiden. Eine Vorstellung von Politik, die im Kern Angela Merkels Politik entspricht: So viel Gutes für so viele Menschen wie möglich machen, soweit es das bestehende System eben zulässt: Und so schließt sich dann auch der Kreis zwischen den wohlstandsverwahrlosten Poppern der Achtzigerjahre, deren politischem Flügel, der FDP, und der kritisch-rationalen Philosophie: Merkel mag Popper."
Schramm hat Merkel zu ihren Thesen nicht befragt, sie befragt das vorhandene Material: Überlieferungen, Interviews und Bilder. Dabei will sie viel: die Person Merkel biografisch erkunden, den Merkel-Diskurs analysieren und nebenbei noch eine Art Deutschland-Porträt schreiben. Das gelingt ihr stellenweise auch. Doch ähnelt ihr Buch all jenen halb gescheiterten journalistischen Merkel-Porträts, von denen sie sich mit ihrer Methode ausdrücklich distanziert, am Ende doch mehr, als ihr recht sein dürfte.
Immer, wenn sie Gründe für das "Phänomen Merkel" sucht, schwächelt das Buch, zum Beispiel, wenn sie ausgehend von Carl Schmitts Souveränitätsbegriff - "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - über Merkel schreibt: "Angela Merkel hat selbst wahrscheinlich einen viel optimistischeren Begriff des Politischen - vielleicht entspricht ihr Verständnis des Politischen dem von Hannah Arendt entwickelten, die im gemeinsamen Handeln das Politische sah, in der Integration."
Da sind dann schon auffällig viele "Vielleichts" und "Wahrscheinlichs" - und vielleicht hätte sich Schramm nur einmal vor Augen führen müssen, wie gut Merkel im vergangenen Jahrzehnt noch jeden Ausnahmezustand für sich zu nutzen gewusst hat: Finanzkrisen, Fukushima, Flüchtlinge. Sie wäre dann eventuell zu einem weniger nachsichtigen Ergebnis bei ihren Mutmaßungen über Angela gekommen. Aber auch wenn "Fifty Shades Of Merkel" am Ende nicht unbedingt dabei hilft, die Frau selbst zu verstehen, so gibt es doch Aufschluss darüber, wie sie so mächtig und angesehen werden konnte, wie sie inzwischen ist.
Julia Schramm: Fifty Shades of Merkel. Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 240 Seiten, 15 Euro. E-Book: 10,99 Euro.