Süddeutsche Zeitung

Russische Literatur:Leben, schauen, staunen

Klarsichtig: Iwan Bunins Blicke in berstende Gesellschaften. Ein Band mit Erzählungen des ersten russischen Nobelpreisträgers.

Von Frauke Meyer-Gosau

Gelassenheit. Höchste poetische Genauigkeit, die hie und da ganze Ketten malerischer Adjektive nach sich ziehen kann. Große Bögen des Erzählens, in denen ein Satz sich auch schon mal über einen langen Absatz hinzieht, ohne dass beim Lesen ein Gefühl der Überfülle oder der Atemlosigkeit entstünde. Ganz im Gegenteil: Ruhe und Ökonomie sind bei dem russischen Autor Iwan Bunin alles, im Gegensatz zur Zeit, in der er lebte. Geboren 1870 in Woronesch, emigrierte er 1920 nach Paris und starb 1953 im französischen Exil.

Was Bunin sich zu erzählen vornimmt - und das können die unterschiedlichsten Begebenheiten und menschlichen Beziehungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und Ländern sein -, fließt vordergründig federleicht dahin, obwohl es in den Geschichten zumeist um Leben und Tod geht.

Sieben Erzählungen aus den Jahren 1914 und 1915 versammelt der Band "Ein Herr aus San Francisco", und obwohl von der vorrevolutionären russischen Freiheitsbewegung nur in einem Fall - unter dem ironisch trügerischen Titel "Eine Geschichte für die Weihnachtszeit" - ausdrücklich die Rede ist, spürt man es im gesellschaftlichen Gefüge hier schon knacken und krachen. Noch scheinen die Verhältnisse zwischen Oben und Unten festgefügt, wie die Herrschaftstradition es will, doch haben die Figuren zugleich schon ein viel zu scharf umrissenes Bild von ihrer Position, deren Bedingungen und Folgen, als dass alles noch auf längere Zeit in Bewegungslosigkeit verharren könnte.

Erzählungen vom Ende einer manchmal glanzvoll herrschenden Klasse

Es ist Iwan Bunins Meisterschaft geschuldet, dass selbst zeitlich wie gesellschaftlich Entlegenes hier augenblicklich nah heranrückt, in seiner Komik wie in seiner Tragik, vor allem aber in seiner Sinnlichkeit. Und so folgt man selbst der Geschichte über einen alten russischen Bettler und einen verkommenen ehemaligen Bauern, die sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zufällig irgendwo auf dem flachen Land in einem Wirtshaus treffen, miteinander zu reden und zu trinken beginnen, rasch mit angespanntem Interesse - dass diese Begegnung nicht gut ausgehen wird, ist bald zu ahnen. Doch wer am Ende das Opfer sein wird, bleibt im scheinbar balancierten Kräfteverhältnis bis kurz vor Schluss offen.

Auch die kuriose, nachgerade verschrobene Erzählung über einen früheren Bediensteten auf einem russischen Gut, der den beiden kleinen Söhnen der Herrschaft abends verbotenerweise blutrünstige, ganz und gar nicht jugendfreie Geschichten von nachmaligen Heiligen erzählt, nimmt uns sofort gefangen - krachende Knochen, abgeschlagene Köpfe und wilde Hurerei werden vom alten Arsenitsch in grellen Farben ausgemalt, während gleich nebenan die feine Gesellschaft einen Ball mitsamt üppigem Bankett genießt.

Zwei Geschichten aber ragen noch einmal besonders heraus, und wohl nicht zufällig sind beide außerhalb Russlands angesiedelt, an Orten, die Iwan Bunin, Russlands erster Literaturnobelpreisträger von 1933, bereist hatte: Er, der einen so liebevollen wie unerbittlichen Blick auf das Land hatte, das er aus politischen Gründen 1920 verließ, sah sein Land immer im Welt-Zusammenhang. Die Erzählung "Brüder" spielt auf Ceylon, die titelgebende Erzählung des Bandes dann auf Capri, und beide handeln vom bevorstehenden Ende der herrschenden Klasse.

So trifft in Colombo ein in Geschäften umherreisender Engländer auf einen jungen Rikscha-Kuli, und was zunächst wie das übliche Herr-Knecht-Verhältnis wirkt - der Engländer, ein ehemaliger Oberst der britischen Kolonialmacht, lässt sich einen Tag lang von dem schönen, zähen Wilden durch die Hitze der Stadt chauffieren -, entfaltet nach und nach zwei höchst gegensätzliche Lebensdramen. An deren Ende tötet sich der Kuli mittels einer Giftschlange, nachdem er seine Braut als Prostituierte in einem herrschaftlichen Haus erkannt hat. Der Engländer aber gesteht nach seiner überstürzten Abreise einem Schiffskapitän die zahllosen Toten, die er während seiner Dienstzeit auf sein Gewissen geladen hat.

"Ein Herr aus San Francisco" schließlich führt in ein Szenario, das an den "Tod in Venedig" denken lässt - mit Thomas Mann'schem Behagen an der hochmögenden Verkommenheit der Privilegierten ist die Geschichte vom reichen, ältlichen Amerikaner denn auch erzählt, der mit Frau und Tochter auf eine zweijährige Europareise geht und, im Luxushotel auf Capri angelangt, nach einem zweimal wiederholten "Es ist furchtbar!" plötzlich stirbt. Sichtlich findet Bunin Vergnügen daran zu zeigen, wie sofort darauf das eben noch devote Verhalten der Hotelangestellten Frau und Tochter gegenüber in sein Gegenteil umschlägt: Nicht einmal einen Sarg will man dem Toten noch zugestehen, er wird in eine Sodawasserkiste getan.

Auf die Frage, weshalb er denn trotz seines Alters unbedingt noch viele Jahrzehnte leben wolle, hatte Bunin Arsenitsch, seinen Erzähler der schaurigen Heiligen-Legenden, antworten lassen: "um zu leben, zu schauen, Gottes Welt zu bestaunen". Derselbe Wunsch hat offenbar den Autor selbst zum Schreiben bewegt - und der gibt ihn umstandslos an seine Leser weiter.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2017
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