Russische Farbfotografien:Unheimlich nah

Wenn man die Farbfotos des Russen Sergei Prokudin-Gorski aus den Jahren 1905-1915 anschaut, bekommt man nicht nur einen seltenen Blick in das zerfallende Zarenreich - die Bilder verblüffen, weil sie den optischen Zeitsprung in die Gegenwart ignorieren.

Von Tim Neshitov

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Wenn man die Farbfotos des Russen Sergei Prokudin-Gorski aus den Jahren 1905-1915 anschaut, bekommt man nicht nur einen seltenen Blick in das zerfallende Zarenreich - die Bilder verblüffen, weil sie den optischen Zeitsprung in die Gegenwart ignorieren. Von Tim Neshitov.

Würde man heute einen begabten Fotografen losschicken und zehn Jahre lang Russland von Wladiwostok bis Pskow ablichten lassen, die Gesichter, die Häuser, die Kirchen, dann käme ein interessanter Bildband dabei heraus. Erstens weil heute kaum ein Fotograf zehn Jahre lang am Stück ein Land bereist. Zweitens weil Russland immer noch ein sehr großes Land ist mit einer Vielfalt an Gesichtern und Geschichten, die verblüfft.

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Vor hundert Jahren, beim Aufbruch ins industrielle Zeitalter und kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war Russlands geografische und ethnische Vielfalt jedoch schier unübersichtlich. Für Ausländer galt das sowieso, aber auch für Russlands Bewohner inklusive des Zaren selbst. 1905 schickte Nikolaus II. deswegen einen 46 Jahre alten Adligen namens Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski auf eine Dokumentationsreise durch das Reich.

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Der Mann war mit der Tochter eines Industriellen verheiratet und musste zeit seines Lebens dessen Metallfabrik in Sankt Petersburg leiten. Doch eigentlich tat Prokudin-Gorski nichts lieber als zu fotografieren. Er hatte Chemie, Malerei und Musik studiert und bei Adolf Miethe in Berlin Dreifarbenfotografie gelernt. Der Chemiker Miethe war ein Pionier der Fototechnik, sein russischer Schüler entwickelte später seine eigene Kamera, mit der er Farbfotos machte. Die ersten in Russland.

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Dazu verwendete Prokudin-Gorski drei Linsen mit Farbfiltern und nahm auf jeweils einer Glasplatte das rote, gelbe und blaue Farbspektrum auf. Eine vierte Linse fing die Szene in schwarz-weiß ein. Der Fotograf musste die Platten in rascher Abfolge austauschen und insgesamt viermal auf den Auslöser drücken. Die Menschen, die er fotografierte, hatten die ganze Zeit still zu halten. Da man Farbfotos noch nicht auf Papier drucken konnte, zeigte Prokudin-Gorski seine Bilder mit einem extra dafür konstruierten Projektor.

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Der Zar war selbst ein Amateurfotograf, und stellte Prokudin-Gorski einen Sonderzug mit Dunkelkammer zur Verfügung, dazu Boote, Autos und Einreisegenehmigungen für Sperrgebiete. Von seiner Reise brachte Prokudin-Gorski mehr als zehntausend Farbbilder auf Glasplatten mit. Nonnen eines Klosters bei Sankt Petersburg bei der Heuernte, Kurgäste in Georgien, die Tischlerei einer Schwertklingenfabrik am Ural, stille Holzhäuser am Wasser, kirgisische Nomadenkinder, leere Fischersiedlungen in Karelien. Die meisten dieser Bilder sind derart scharf, dass man sie für Aufnahmen aus einem spätsowjetischen Fotoalbum halten könnte, manche gar für nachgestellte Bilder aus jüngster Zeit.

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Die Bauernmädchen mit Beeren etwa, eines von Prokudin-Gorskis berühmtesten Fotos von 1909, strahlen eine unheimliche Retro-Ästhetik aus. Es ist schwer, das Bild zeitlich einzuordnen, die heute allgegenwärtige Instagram-Romantik überlagert im Kopf des Betrachters die Zeitläufte. Das liegt nicht nur an der Farbfotografie, etwas, was man kaum mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Verbindung bringt. Es liegt an den Gesichtsausdrücken. Die Mädchen wirken sehr gegenwärtig, als hätte man sie schon mal in der U-Bahn gesehen. Gesichter ändern sich nicht unbedingt, auch wenn sich Kleidung, Technik oder politische Ordnungen ändern. Daran erinnern Prokudin-Gorskis Bilder.

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Bis vor Kurzem waren sie ein Geheimtipp. Man konnte sie auf der Internetseite der Library of Congress sehen. In diesem Jahr sind diese Bilder erstmals in zwei deutschsprachigen Bildbänden erschienen (Nostalgia, Das Russland von Zar Nikolaus II., Gestalten Verlag 2012, sowie Das russische Zarenreich, Brandstätter-Verlag 2012).

Das Buch aus dem Brandstätter Verlag, das hier betrachtet wird, ist eine fotografische Zeitreise von 1855 bis 1918, und neben den Farbfotos Prokudin-Gorskis bietet es Schwarz-Weiß-Aufnahmen russischer und ausländischer Fotografen, die im Zarenreich arbeiteten, beginnend mit dem Krimkrieg (1853-1856). Man sieht auch Bilder, die Nikolaus II. selbst von seiner Familie machte, und Fotos, die Anton Tschechow von seiner Reise zur fernöstlichen Insel Sachalin 1890 mitbrachte: einen Gottesdienst in einem Eisenbahnwaggon auf einem Abstellgleis, die zerfurchte Hauptstraße der sibirischen Stadt Mariinsk.

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Ohne Prokudin-Gorskis Bilder wäre der Bildband eine spannende Geschichtsstunde. Mit ihnen ist er eine Freude. Nach der Oktoberrevolution 1917 boten sogar die Bolschewiken dem adligen Fotografen eine Professur an. Prokudin-Gorski lehnte ab. Er wanderte nach Paris aus und nahm 22 Holzkisten voller Glasplatten und Alben mit schwarz-weißen Abzügen mit. In Paris starb er 1944. Sein Sohn verkaufte die Platten an die Library of Congress in Washington, wo sie bis heute aufbewahrt werden. Von den zehntausend Aufnahmen sind knapp zweitausend erhalten geblieben.

Das russische Zarenreich, 1855-1918. Hrsg. Philipp Blom und Veronica Buckley. Christian Brandstätter Verlag, Wien-München. 248 Seiten, 49,90 Euro.

© SZ vom 25.01.2013/cag
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