Süddeutsche Zeitung

Russen und Tschetschenien:Land schrecklicher Gefahren

Viele Russen rätseln über die mutmaßlichen Boston-Attentäter tschetschenischer Herkunft - und verfallen dabei in jahrhundertealte Kaukasus-Phantasien. Doch die Zarnajew-Brüder zerstören den Mythos vom erdverbundenen Freiheitskämpfer.

Von Tim Neshitov

"Wer sind sie?", fragte die russische Zeitung Nowaja Gaseta, als Dschochar Zarnajew gefasst wurde. "Kinder des Tschetschenien-Krieges, islamistische Extremisten oder amerikanische Studenten, unzufrieden mit dem Lauf der Dinge unter Obama, unzufrieden einfach mit dem Leben?"

Das Attentat von Boston hat in Russland ein Rätselraten ausgelöst, das sich zwar auf die gleichen, bisher dürftigen und widersprüchlichen Erkenntnisse der Geheimdienste stützt. Aber anders als manche Amerikaner, die nicht wissen, wo Tschetschenien liegt, stoßen viele Russen bei ihrem Rätselraten auf jahrhundertealte Kaukasus-Phantasien in den eigenen Köpfen. Auf literarisch verankerte Mythen vom edlen Wilden aus dem 19. Jahrhundert; auf lange Zeit verschwiegene Vertreibungsgeschichten der Stalin-Ära; auf Mythen der jüngsten Tschetschenien-Kriege, geschaffen durch wacklige Fernsehbilder, wahhabitische Gegenpropaganda und Erinnerungen russischer Soldaten, die von Häutungen und spritzenden Hirnen berichten.

Diese Tschetschenien-Bilder, die ein durchschnittlicher Russe im Hinterkopf trägt, ohne je das Land gesehen zu haben, werden nun infrage gestellt. Sie hatten alle eine gemeinsame Klammer: die Vorstellung vom erdverbundenen Freiheitskämpfer, der für seine kaukasische Heimat kämpft, ob tapfer oder heimtückisch, aber immer gegen die russischen Besatzer beziehungsweise Verteidiger der territorialen Integrität Russlands, je nach Sichtweise.

Die Brüder Zarnajew aber kämpften nicht für ihre Heimat, denn sie hatten keine. Sie töteten keine russischen Besatzer, denn Boston ist nicht von Russen besetzt. "Tschetschenen ohne Grenzen", titelte die Nowaja Gaseta etwas ratlos.

Leo Tolstoi, der im Mai 1851 in den Kaukasus reiste, verdankte dieser Region sein literarisches Debüt. Tolstoi war damals noch kein Schriftsteller, er war 23 Jahre alt und hatte sich in Moskau mit Kartenspielen elend verschuldet. Am rechten Ufer des Flusses Terek kommandierte sein Bruder Nikolaj eine russische Artilleriebrigade. Tolstoi trat in den Militärdienst ein, um seine Finanzen aufzubessern. Seine Erfahrungen beschrieb er ein Jahr später in der Novelle "Die Kosaken". Deren Held Olenin, ein aus Moskau geflüchteter Prasser, freut sich zuerst auf frische Abenteuer: "In seinen Träumen tauchten tscherkessische Mädchen, Berge, Schluchten, schreckliche Sturzbäche und Gefahren auf." Doch später sieht sich Olenin selbst als Teil des Volkes, das er unterjochen soll, als "einen der Hochländer, der ihnen hilft, ihre Unabhängigkeit gegen die Russen zu verteidigen".

Auch Alexander Puschkin, der in Russland als "unser Alles" verehrt wird, lebt in kaukasischen Herzen fort. In einem Aufsatz über den Kaukasus als Inspirationsquelle für fremde Schriftsteller schreibt eine einheimische Literaturwissenschaftlerin: "Puschkin machte die Kultur des Kaukasus zum Kulturerbe Russlands, Europas, der ganzen Welt." Puschkins Poem "Der Gefangene im Kaukasus" aus dem Jahr 1821 gilt als eine Art Enzyklopädie hochländischer Sitten.

Der Held, ein junger Mann, der Russland verlässt, um in den Bergen geistige Freiheit zu erlangen, gerät in tscherkessische Gefangenschaft. "Tscherkessen" war damals ein Sammelbegriff für sämtliche Kaukasusvölker. Der Gefangene wird gut behandelt, er beobachtet mit Interesse, wie raue Männer sich auf ihre Angriffe vorbereiten, er bewundert ihre Pferde, ihre Säbel, ihren Mut. Ihre Religion prägt in seinen Augen nicht den Charakter der Tscherkessen, sie fügt lediglich mehr Farbe zu ihrem bunten Alltag hinzu. Nachts besucht den Russen heimlich eine schöne Tscherkessin, sie bringt ihm Wein, Honig und vergorene Stutenmilch, sie bringt ihm ihre Sprache bei. Er kann ihre Liebe nicht erwidern, aber sie hilft ihm trotzdem zu fliehen - und stürzt sich danach in den Bergfluss.

In der russischen Gegenwartsliteratur findet man selten menschliche Kaukasier-Porträts. Bei Zakhar Prilepin, einem Autor, der in den Neunzigerjahren an beiden Tschetschenien-Kriegen teilnahm, heißen Tschetschenen schon mal "Tschitschen". General Gennadij Troschew spricht in seinen Memoiren überwiegend von tschetschenischen Banditen und Terroristen. "Ja, wir sind in Blut gebadet, aber wir haben gezeigt, dass in uns auch in dieser Zeit - einer Zeit verschwommener Ideale - der heldenhafte Geist der Vorfahren fortlebt."

Auch die Brüder Zarnajew fanden, dass in unserer Zeit Ideale verschwinden. Aber für welche Ideale töteten sie? Die russische Publizistin Julia Latynina vermutet, die jungen US-Tschetschenen seien dem internationalen Islamismus verfallen, einer entwurzelten, weltweiten Bewegung, die nach dem Ableben des Sozialismus die Aufgabe übernommen habe, ein Paradies auf Erden zu errichten. Sie zitiert den Islamisten Said Burjatskij: "Die Zeiten, als wir für die Freiheit Tschetscheniens kämpften, für diesen heidnischen Begriff, sind vorbei. Nun kämpfen wir für Allah."

Der Anschlag von Boston habe gezeigt, schreibt Latynina, dass Terror in demokratischen Gesellschaften lediglich die Menschen zusammenschweiße. "Am Nordkaukasus aber, wenn jemand einen Terroristen sieht, der sich bei ihm im Hof versteckt, wird niemand die Polizei rufen. Nicht weil er an der Seite des Terroristen steht, sondern weil dann andere Terroristen kommen und ihn töten (. . .) Gewalt ist dort die beste Methode, Angst einzujagen, reich zu werden und auf die Spitze der Machtpyramide zu klettern. Gewalt spielt die Rolle, die in einem normalen Land das Kapital spielt."

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SZ vom 23.04.2013/cag
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