"Das weite Land" bei der Ruhrtriennale:Keine Sicherheit auf Erden

"Das weite Land" bei der Ruhrtriennale: Bibiana Beglau in einer Doppelrolle, im Hintergrund Michael Maertens, rechts Katharina Lorenz spielen Schnitzler bei der Ruhrtriennale.

Bibiana Beglau in einer Doppelrolle, im Hintergrund Michael Maertens, rechts Katharina Lorenz spielen Schnitzler bei der Ruhrtriennale.

(Foto: Matthias Horn, Ruhrtriennale 2022)

Ehrlicher ist über die Ehe nie gesprochen worden: Barbara Frey inszeniert mit dem Ensemble des Wiener Burgtheaters in Bochum Arthur Schnitzlers "Das weite Land".

Von Alexander Menden

Noch bevor das erste Wort auf der Spielfläche der Bochumer Jahrhunderthalle gefallen ist, wird im raunenden Duktus der Deutschlandfunk-Sendung "Sternzeit" der Lebenszyklus diverser Insekten erläutert. Sie brüten auf toten Körpern, während hinter dem durchscheinenden blauen Vorhang eine Trauerprozession vorbeizieht. Arthur Schnitzlers Stück "Das weite Land" von 1910 hat sich die Regisseurin Barbara Frey für eine Koproduktion der Ruhrtriennale mit dem Wiener Burgtheater vorgenommen. Es scheint, als seien die Protagonisten dieses klügsten Theaterstücks über außereheliche Affären, das je in deutscher Sprache verfasst wurde, in Bochum von Beginn an zu einer selbstgewählten Grabesexistenz verdammt.

Dort, in der Jahrhunderthalle, entfaltetet sich auf einer nur mit drei Clubsesseln bestückten Spielfläche ein entsättigtes Panorama aus Affären, in denen sich der Glühbirnenfabrikant Friedrich Hofreiter, seine Frau Genia, der Fähnrich Otto Aigner, die junge Erna und viele andere verheddern. Hofreiter hat gerade eine Affäre beendet, ein Freund hat sich, anscheinend aus enttäuschter Liebe zu Hofreiters Frau, das Leben genommen, was Friedrich seiner Frau unumwunden vorwirft, um sich gleich darauf in die nächste Affäre zu stürzen. Am Ende wird niemand glücklicher sein, aber ein weiterer Mensch tot.

Es liegt nahe, Hofreiter in dieser Konstellation als Schurken der Lächerlichkeit preiszugeben, der seine Impulse nicht unter Kontrolle hat. Doch Frey nimmt Friedrichs auf den ersten Blick plattitüdenhaft wirkende Bemerkung ernst, das Leben sei "schon eine komplizierte Einrichtung". Nie hat man das Gefühl, die Figur folge jenem unreifen Lustprinzip, das Schnitzlers Frauen den Männern (sicher nicht zu Unrecht) als Lebenszweck nachsagen. Nein, dieser steife Mensch mit seinen hängenden Schultern und seinen mezza-voce-Selbstrechtfertigungen ist gefangen in unfroher Unfreiheit, ratlos und hilflos angesichts des eigenen, zuletzt tödlichen Handelns.

"Das weite Land" bei der Ruhrtriennale: Das Ensemble des Wiener Burgtheaters steht in dieser Koproduktion mit der Ruhrtriennale in Bochum auf der Bühne.

Das Ensemble des Wiener Burgtheaters steht in dieser Koproduktion mit der Ruhrtriennale in Bochum auf der Bühne.

(Foto: Matthias Horn, Ruhrtriennale 2022)

Michael Maertens macht den mal zweiflerisch, mal entschlossen, aber immer erfolglos zum Ausbruch aus der Grabesenge ansetzenden Mann zu einem Richtungssuchenden. Sein Hofreiter ruft selbst da eine Art Mitgefühl hervor, wo er zweierlei Maßstäbe an sich und andere anlegt, wo er sich durch Eifersuchtsattacken auf seine Frau zu exkulpieren versucht, wo er in einem überraschenden Ausbruch ein "bedingungsloses Ja" von der neuen Geliebten Erna fordert, um schließlich darauf zu bestehen, er "gehöre niemandem auf der Welt". Ein Zuschauer des eigenen Lebens ist dieser traurige Kerl, unfähig oder unwillig, zu verstehen oder zu ändern, was er beobachtet.

Die "Ehrlichkeit bis zur Orgie", die sein Freund, der stets einsam bleibende Doktor Mauer - ein mit fruchtloser Anständigkeit agierender Itay Tiran - einfordert, stellt in einer Welt die größte Bedrohung dar, in der die Menschen niemanden beharrlicher betrügen als sich selbst.

Die einzige Ausnahme bildet ausgerechnet ein geschiedenes Paar. Als besonders kluge und überzeugende Entscheidung erweist sich die Besetzung der Rollen der Frau Meinhold-Aigner und des von ihr getrennten Doktor Aigner mit derselben Darstellerin, Bibiana Beglau. Doktor Aigner hat seine Affäre seiner Frau gestanden, und sie beendete die Ehe: "Dass ich sie so sehr liebte und trotzdem fähig war, sie zu betrügen, das machte sie irre an mir und an der ganzen Welt. Nun gab es überhaupt keine Sicherheit mehr auf Erden, keine Möglichkeit des Vertrauens."

Keine Orgien, dafür Angst vor wirklicher, irreversibler Veränderung

Jetzt leben beide Teile dieser vormals unauflösbaren Verbindung getrennt wie ein auseinandergebrochener platonischer Kugelmensch. Beglau gibt den weiblichen Part weicher und einsichtiger als den männlichen, aber sie lässt beide als komplementäre Prinzipen erscheinen, die am Prinzipienbruch gescheitert sind, an zu hohen Erwartungen und Kompromisslosigkeit.

"Das weite Land" bei der Ruhrtriennale: Durchbruch, aber wozu? Bühnenbild mit Tunnelbohrmaschine in Barbara Freys Schnitzler-Inszenierung.

Durchbruch, aber wozu? Bühnenbild mit Tunnelbohrmaschine in Barbara Freys Schnitzler-Inszenierung.

(Foto: Matthias Horn, Ruhrtriennale 2022)

Aus der Unaufrichtigkeit der übrigen Figuren ergibt sich eine große Spannung zwischen der Offenheit, mit der über Affären gesprochen, und der Inkonsequenz des "Weiter so", mit der in voller Kenntnis der Untreue gehandelt wird. Orgien sind hier nicht zu erwarten. Das diszipliniert zurückgenommen agierende Ensemble schafft vielmehr effektiv eine Atmosphäre der Angst vor wirklicher, irreversibler Veränderung der doch eigentlich unerträglichen Verhältnisse.

Das gilt auch für Hofreiters Frau Genia, die sich dieser Inkonsequenz zumindest bewusst ist. Katharina Lorenz sitzt wie eingefroren in ihrem Sessel und spekuliert darüber, ob es ein Zeichen mangelnder Liebe sei, wenn sie ihrem Mann seine Eskapaden verzeihe: "Vielleicht ist es überhaupt die höhere Art von Liebe, die nicht verzeiht." Dass sie, die so lange nicht Gleiches mit Gleichem vergelten wollte, sich am Ende dennoch in eine eigene Affäre mit Felix Kammerers linkischem, knabenhaftem Otto stürzt, wirkt gleichsam wie eine Entlastung ihres Mannes, den sie dadurch von der Bürde einseitiger Untreue befreit. Otto wird es in einem absurd unnötigen Duell mit Friedrich das Leben kosten.

Als sich zum Schlussbild der Vorhang öffnet und der riesige Kopf einer Tunnelbohrmaschine zum Vorschein kommt, könnte das eine Öffnung der Gräber, einen Durchbruch in die Freiheit suggerieren. Aber auch die endgültige Zerstörung des Gewesenen. Die Erstarrung im Status quo, das Bemühen um menschliche Annäherung und das Minenfeld aus Aufrichtigkeit und Verschweigen, das die Ehe ist, wurden nie schärfer in Dialoge gefasst als in diesem Drama. Freys kongeniale Produktion zeigt, dass es, indem es sich weigert, eindeutige Antworten zu geben, in einer Welt des allgegenwärtig schnellen Urteils zeitgemäßer ist denn je.

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