Ruhrfestspiele:Täglicher Tod

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In Recklinghausen erlebte Wallace Shawns "Evening at the Talk House" die deutsche Erstaufführung. Ein makabres Boulevardstück über Mord, Überwachung und Selektion und den Abschied von Kunst und Theater zugunsten von regimetreuem Fernsehen.

Von Egbert Tholl

Die Situation ist einem eigentümlich vertraut, man kennt sie aus Fernsehserien oder aus amerikanischen Boulevard-Stücken: In einer Kneipe treffen sich Menschen, die vor langer Zeit viel miteinander zu tun hatten, sich danach aus den Augen verloren. Alle sind sie Künstler, die vor zehn Jahren zusammen eine Theaterproduktion gemacht haben, und man ist heilfroh, dass man dieses Stück von damals nicht zu sehen kriegt, es reicht, wenn Nellie, die Wirtin, einen Satz daraus zitiert: "Und als ich auf die düstere Aue trat, hörte ich einen Schrei und sah dort einen Mann, nicht größer als ein neugeborenes Reh."

Als "Evening at the Talk House" von Wallace Shawn im Februar dieses Jahres in New York herauskam, im Pershing Square Signature Center in der 42. Straße, schrieb die New York Times, das Stück sei "Dystopia Next Door", also der unmittelbare Verlust aller Utopien. Bis zur Mitte des Stücks fragt man sich, was zum Teufel damit gemeint sein könnte, man lauscht einem halbwegs geistreichen Geplänkel über verschiedene Träume, die zerstoben, verschieden Karrieren, die gut oder schlecht verliefen. Bei der deutschen Erstaufführung nun bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen wiederholt sich der Eindruck von der Lektüre. Bis zur Hälfte eben. Dann driftet Shawn in dunkle Gefilde ab, die in diesem Wellmade-Play-Kontext auf ein hiesiges Publikum exotischer wirken als eine abgefahrene japanische Performance.

Der Mord, die Überwachung, die Selektion - all dies ist normal geworden

Die Regisseurin Johanna Wehner behält bei dieser Produktion des Schauspiels Frankfurt, die im Herbst zusammen mit Intendant Oliver Reese ans Berliner Ensemble weiterziehen wird, die Lakonie des entspannten Boulevards bei. Aber sie legt zarte Fährten. Der Raum von Volker Hintermeier ist ein schönes Bar-Rondell mit Chesterfield-Sesseln und blinden Spiegeln, doch ist dieses umgeben von einem Stahlgerüst und erinnert so ganz vage an einen Bunker. Musik (Joachim Schönecker) tropft leise, als wäre der Bunker undicht. Die Menschen tragen einen überkandidelten Chic, sie sind selbstzufriedene Reste eines Künstlertums, das keine Rolle mehr spielt. In dieser gar nicht fernen Zukunft geht niemand mehr ins Theater, ein unbestimmt bleibendes Regime setzt auf Volksbelustigung via Fernsehserien.

Auf einmal ist der Tod da. Nebenbei stellt sich heraus, das die Hälfte der einstigen Künstler inzwischen für das Regime arbeitet. Sie wählen Menschen aus, die ermordet werden, die weg müssen. Manche morden aktiv, manche erstellen nur Listen, manche hantieren mit kleinen Giftkügelchen, von denen eines Nellie dahinrafft. Das Fiese daran ist die vollkommene Beiläufigkeit, mit der die Figuren darüber reden. Der Mord, die Überwachung, die Selektion, all dies ist normal geworden und passt wie Nüsschen zum Drink.

Shawn, geboren 1943 in New York, entwirft ein Konstrukt. Aber Wehner und die alle auf sonst fremdem Boulevard-Terrain sehr sicheren Schauspieler machen daraus eine plastische Miniatur von einem sehr nahe wirkenden Ende der Humanität. In Amerika oder sonstwo.

© SZ vom 11.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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