Eröffnung Ruhrfestspiele:Kohle für Kunst, Kunst für Kohle

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"Warte wieder auf bessere Götter": In "Sibyl" von William Kentridge gibt es gute Ratschläge und kryptische Sprüche von der Prophetin. (Foto: Stella Olivier)

Die Ruhrfestspiele, einst als Arbeiterfestival gegründet, fordern "Haltung und Hoffnung" ein. Mit dem Auftakt von William Kentridge ist das schon mal gelungen.

Von Christine Dössel

Es ist doch immer wieder erstaunlich, welch ein Natur- und Kulturgebiet das Ruhrgebiet ist. Viele, zumal aus alpenländischen Gefilden, haben da ja oft noch so ein klischeehaftes Kohlenpottbild vor Augen. Wer dann aber, nur zum Beispiel, in der Seniorenresidenz von Recklinghausen unterkommt, welche auch ein Hotel ist, findet sich umgeben von den teuersten Villen und dem heimeligsten Grün. Das nicht weit entfernte Festspielhaus thront so selbstbewusst auf der Anhöhe des Stadtgartens, dass die Recklinghäuser von ihrem "Grünen Hügel" sprechen. Was aus Bayreuther Sicht natürlich eine Anmaßung ist. Optisch aber geht das allemal durch, gerade im sprießenden Monat Mai, traditionell der Beginn der Ruhrfestspiele, die nicht mit der sehr viel jüngeren, später im Jahr beginnenden Ruhrtriennale verwechselt werden dürfen.

"Kohle für Kunst, Kunst für Kohle", auf diesem fairen Deal beruhte einst die Gründung dieses ältesten Theaterfestivals Europas. Bergleute aus Recklinghausen schmuggelten im frostigen Winter 1946/47 Kohle nach Hamburg: als Brennstoff für die ausgekühlten Theatersäle. Ein Jahr später kamen die Hanseaten und bedankten sich mit Kostproben ihrer Kunst bei den Kumpels. So fing es an. Als Akt der Solidarität. Dass die Ruhrfestspiele ein Arbeiterfestival sind, mitgetragen vom DGB, merkt man ihnen zwar äußerlich nicht unbedingt an, das Publikum sieht sehr bürgerlich aus und sitzt auch nicht mehr, wie in den Sechzigerjahren, mit Butterbrotdosen im Theater, weil es ja länger dauern könnte. Aber das Aufkommen von Gewerkschaftsleuten und Firmenchefs am Eröffnungsabend ist hier doch besonders hoch, und am Ende aller Reden gibt es fast immer ein herzliches "Glück auf!", den alten Kumpelgruß, in dem schon das diesjährige Festspielmotto anklingt: "Haltung und Hoffnung".

Nach zwei Jahren Pandemiestörung ist es erstmals wieder ein vollständiges Präsenzfestival, und die Freude darüber dringt dem Intendanten Olaf Kröck aus allen Poren. 92 Produktionen in sechs Wochen, darunter Kabarett, Cirque Nouveau, Gastspiele wie "Die Dreigroschenoper" vom BE, Popkonzerte von Imany und Element of Crime, prominente Schauspieler wie Charly Hübner und Matthias Brandt - was manche als Gemischtwarenladen abstempeln, nennt Kröck "Grundversorgung", auch mit "niedrigschwelligen Angeboten" und einem "flankierenden Vermittlungsprogramm". Stärker als vielleicht anderswo mischten sich im Ruhrgebiet die Milieus: "Das ist hier nicht die Bubble." Kunst und Ästhetik schön und gut. Allem zugrunde aber liege die inhaltliche Ausrichtung dieser "Arbeiter-Festspiele", und die sei zuvorderst politischer Natur.

Das Motto "Haltung und Hoffnung" - perfekt verkörpert von der Autorin Sharon Dodua Otoo

Hochwertige Kunst auf internationalem Niveau und politischer Anspruch - beim diesjährigen Auftakt ging das aufs Gelungenste zusammen. Das begann schon mit der geistreichen, überaus charmant vorgebrachten Eröffnungsrede der Schriftstellerin, oder wie sie sich selber nennt: "Geschichtenerzählerin", Sharon Dodua Otoo ("Adas Raum"). Die in Berlin lebende Autorin mit ghanaischen Wurzeln, die 2016 als erste Schwarze den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewann, beschwor die Kraft und Bedeutung des Geschichtenerzählens auch dort, wo es um Politik, Ausgrenzung und Diskriminierung geht. Populisten wie Donald Trump oder Boris Johnson hätten ihre Erfolge auf zweckmäßigen Erzählungen aufgebaut. Auch wer Fakten unter die Menschen bringen und Empathie stärken wolle - zum Beispiel allen Geflüchteten gegenüber, nicht nur denen aus der Ukraine -, müsse Geschichten erzählen, Geschichten von Menschen, Schicksalen, Visionen. Ja, denkt man da. Und ist an diesem Abend im Theater genau richtig.

"Haltung und Hoffnung" - Sharon Dodua Otoo verkörperte beides. Als sie das Publikum bat, gemeinsam durch Fingerklopfen in die Handfläche das Geräusch von Regen zu erzeugen, schien es im Recklinghäuser Festspielhaus plötzlich zu tröpfeln, zu schütten, zu gießen. Ein verblüffender Effekt - und magischer Moment. Perfekt als Einleitung zu "Sibyl", dem neuen Stück des südafrikanischen Bildermagiers und Allroundkünstlers William Kentridge, einem bezirzenden Gesamtkunstwerk aus Musik, Gesang, Tanz und visuellen Effekten, soghaft, fremd, betörend.

Wie Bob Ross, nur kunstintellektueller: Willilam Kentridge in seinem Atelier in Johannesburg. (Foto: Stella Olivier)

Der Abend beginnt im ersten Teil mit einem Film ("The Moment Has Gone"). Da sieht man Kentridge in seinem Atelier in Johannesburg inmitten von Zetteln, Notizbüchern, Papieren bei einer Art Making-of: Wie er mit einem dicken Kohlestift (Kohle für Kunst!) zeichnet, malt, Linien zieht und vermisst und das Gefertigte oft auch wieder verwischt, während die Bilder sogleich ein Eigenleben gewinnen, zu laufen beginnen. Es ist ein bisschen wie bei Bob Ross. Nur viel kunstintellektueller. Als Person verdoppelt blickt sich der Meister mit der Kamera schon mal über die eigene Schulter und wird schließlich selbst zu einem Gezeichneten, einem Betrachter in einem animierten Museum. Es ist ein Daumenkino der Metamorphosen, ein Bilderrausch der Assoziationen. Sie künden von Sklavenarbeit, Apartheid, Sterblichkeit, Tod. Begleitet wird dieser Entstehungs- und Vergehensprozess der bewegten Bilder von Live-Musik auf der Bühne: Vier Schwarze im Look von Plantagenarbeitern singen in den höchsten, schrägsten, wehesten und schönsten Tönen, begleitet von dem grandiosen Pianisten (und musikalischen Leiter) Kyle Shepherd.

Nichts ist von Bestand auf dieser Bühne. Alles fließt

Der zweite Teil ("Waiting for the Sibyl") wartet mit einer bildgewaltigen Kammeroper inmitten einer wahren Zettelwirtschaft auf. Der Titel spielt auf die Prophetin Sibylle von Cumae an. Der Legende nach sah sie das Los von Menschen voraus und schrieb es vor ihrer Höhle auf Baumblätter auf, die jedoch vom Wind verwirbelt wurden. Sodass die Menschen zwar Vorhersagen bekamen, aber nicht sicher sein konnten, ob es sich wirklich um das eigene Schicksal handelt. Kentridge nimmt das zum Anlass für einen musikalisch-tänzerischen Wirbelsturm der Ängste, Hoffnungen und Glaubenssätze, der Projektionen und Schattenspiele. Eine babylonische Kakophonie der Stimmen, Klänge und Weissagungen, dargeboten von neun hochdynamischen schwarzen Sängerinnen und Tänzerinnen, die seltsame Verrichtungen vollziehen und in den unterschiedlichsten Dialekten Afrikas singen. Die alten Götter sind müde, heißt es, und auch von der Prophetin ist keine Zukunftsprognose, keine Sicherheit, nichts Handfestes zu erwarten. In Gestalt von Thandazile Radebe tanzt sie mit gerafftem Rock in der Mitte der Bühne wie ein Derwisch, und ihr Schatten vergrößert und verselbständigt sich auf der großen Bildwand hinter ihr, die aussieht wie ein Kontorbuch. Nichts ist von Bestand auf dieser Rätselbilderbühne. Alles fließt. Blätter wehen. Rorschach-Bilder klecksen auf und zerrinnen. Sätze wie Orakelsprüche erscheinen als Projektionen auf den Seiten des vermeintlichen Lebensbuches: "Du bist nicht als nächster dran", "Lass uns vernünftig sein". Fragen ploppen auf, es wird auf einen Algorithmus verwiesen - und auf einen glücklichen Mann in Nordbrasilien. Aber sichere Antworten und Pfade gibt es keine. Es muss schon jeder selber sein Leben in die Hand nehmen. Dazu fordert dieser sinnenfreudige, sinnenreizende Theaterabend auf. Der Zustand der Unsicherheit sei so etwas wie eine "gemeinsame Sprache auf der Welt" geworden, sagt der große alte William Kentridge. Auf dieser Basis verstehen wir uns. Zumindest auf dem Feld seiner Kunst.

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