Rufmord an Lanzmann:Plötzlicher Gedächtnisverlust

Claude Lanzmann ist als streitbarer Intellektueller ein sehr bekannter Mann. Nun wirft man dem "Shoah"-Regisseur vor, er habe seine Autobiographie gefälscht. Eine unhaltbare Behauptung.

J. Willms

"Die Pflicht des Historikers", ließ sich Goethe einmal vernehmen, "ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muss er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muss er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum muss aber nicht ins Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden."

Rufmord an Lanzmann: Claude Lanzmanns Buch vereinigt aufs schönste alle Stärken und Schwächen, die dem Genre Autobiographie seit Rousseaus vermeintlicher Lebensbeichte der "Confessions" eigentümlich sind.

Claude Lanzmanns Buch vereinigt aufs schönste alle Stärken und Schwächen, die dem Genre Autobiographie seit Rousseaus vermeintlicher Lebensbeichte der "Confessions" eigentümlich sind.

(Foto: Foto: ap)

Wer Goethe war, dem sich diese skeptische Maxime verdankt, ist dem Publikum bekannt. Das gilt aber bislang noch nicht im gleichen Maße für Christian Welzbacher, der sich deshalb des Beispiels des Herostrat besann, um sich sein Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Diese Vermutung legt jedenfalls sein Elaborat nahe, das vor rund einer Woche in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit unter dem Titel "Eine kleine Warnung an den Rowohlt Verlag" erschienen war.

Was ist der Anlass für diese "Warnung", die, wie einen der Text schnell belehrt, keineswegs als "klein" gelten will? Der ebenfalls in der Nähe Hamburgs ansässige Buchverlag plant in diesem Jahr die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung der umfangreichen Autobiographie, die von Claude Lanzmann im vergangenen Jahr in Frankreich unter dem etwas rätselhaft anmutenden Titel "Le Lièvre de Patagonie" - "Der patagonische Hase" - erschienen ist. Lanzmann wird übrigens am kommenden Montag bei einer Aufführung seines Debütfilms "Warum Israel" aus dem Jahr 1973 in Hamburg zugegen sein.

Claude Lanzmann, Jahrgang 1925, ist nicht nur in Frankreich wegen seines Dokumentarfilms "Shoah", sondern auch als Autor und streitbarer Intellektueller ein sehr bekannter Mann. Ein Ausweis dafür ist, dass seine mit Verve und vielen Anekdoten erzählte Autobiographie bei Kritik und Publikum in Frankreich großer Erfolg beschieden war.

Das Buch vereinigt aufs schönste alle Stärken und Schwächen, die dem Genre Autobiographie seit Rousseaus vermeintlicher Lebensbeichte der "Confessions" eigentümlich sind: Es ist bisweilen geschwätzig, oft witzig, durchaus eitel, in manchen Urteilen und Bewertungen bisweilen so überzogen, dass es zum Widerspruch herausfordert, aber dennoch eine anregende Lektüre, die mit viel Lust und Schwung den rundum intelligenten und unterhaltsamen Beitrag eines hochbetagten Temperaments zur Erklärung dessen liefert, "wie es eigentlich gewesen".

Eine kleine Warnung

Eben daran aber geruht der 1970 geborene Kultur- und Architekturhistoriker Christian Welzbacher jenen Anstoß zu nehmen, der ihn dazu veranlasste, dem Rowohlt-Verlag "eine kleine Warnung" auszusprechen, die dank ihrer Veröffentlichung in der angesehenen Wochenzeitung gehörigen Lärm zu verursachen versprach. Die Erwartung hat sich unterdessen auch erfüllt, aber wohl kaum in der Weise, wie sich dies Welzbacher erhofft hatte, denn Jürg Altwegg erteilte dem übereifrigen Warner in der FAZ vom Dienstag unter der Rubrik "Rufmord an Claude Lanzmann" die ihm gebührende Abfuhr. Das nun, wie zu erwarten, nötigte das Feuilleton der Zeit zu einer gewundenen Replik, eine Aufgabe, die Florian Illies zufiel, der in der neuesten Ausgabe des Blatts die von Welzbacher gegen Lanzmanns Darstellung ins Feld geführten Einwände verteidigt.

Anlass dieser Kontroverse ist, dass Claude Lanzmann in seinen Erinnerungen schreibt, ein von ihm 1949 in der im Ostsektor von Berlin erscheinenden Berliner Zeitung veröffentlichter Artikel habe damals die Amtsentlassung des Gründungsrektors der Freien Universität (FU), Edwin Redslob, mittelbar erzwungen. Das, so Christian Welzbacher, entspreche jedoch keineswegs den Tatsachen, denn Redslob sei erst im November 1950 und durchaus "freiwillig", vorgeblich "aus Altersgründen" aus diesem Amt ausgeschieden.

Aber auch diese mit manchen Zeugnissen unterfütterte gegenteilige Behauptung verkürzt den Sachverhalt in denkbar unzulässiger Weise. Auf Fahrlässigkeit kann sich Welzbacher dabei aber nicht berufen, denn er veröffentlichte im vergangenen Jahr selbst eine umfangreiche, sehr differenzierte und die Problematik der Figur genau ausleuchtende Biographie über Edwin Redslob (SZ vom 29. Juni 2009), die diesen keineswegs als jene Lichtgestalt vorstellt, als die er ihn jetzt mit seiner "kleinen Warnung" zu erweisen sucht.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Redslobs publizistisches Wirken von den Nazis als "kriegswichtig" eingestuft wurde.

"Welche Kraft hat der nationalsozialistische Geist an der Freien Universität?"

In seinen Erinnerungen erzählt Lanzmann, dass er 1949 als Lektor an der damals auf Initiative von Studenten hin gegründeten Freien Universität tätig war. Die Gründung der FU geschah aus berechtigtem Protest gegen die zunehmende Einschränkung der Freiheit von Lehre und Forschung durch die kommunistischen Machthaber, die ihr Gesinnungsregiment an der im Ostsektor ansässigen Friedrich-Wilhelms-Universität, der nachmaligen Humboldt-Universität, brachial durchsetzten. Auf Anregung der Studenten habe Lanzmann, so berichtet er, an der FU eine Veranstaltung zum Thema Antisemitismus geplant, was ihm aber vom französischen Stadtkommandanten mit der Begründung untersagt worden sei, dass politische Themen im Lehrprogramm der Universität nichts verloren hätten.

Um dagegen zu protestieren, habe er, Lanzmann, damals einen Artikel geschrieben, dessen Veröffentlichung aber von den in den West-Sektoren erscheinenden Zeitungen, die um den Erhalt ihrer Lizenzen bangten, abgelehnt worden sei. Der Artikel, so Lanzmann, habe den Widerspruch zwischen den damals laufenden Entnazifizierungsverfahren und aktuellen Vorgängen im Zusammenhang mit Berufungen von Professoren an die noch im Aufbau befindliche FU aufgezeigt. Das war ein heikles, aber auch hochaktuelles Thema, an das zu rühren in der hocherregten Atmosphäre des "Kalten Kriegs" aus mancherlei Gründen nicht opportun war.

Diese Bedenken bestanden im unter sowjetischer Kuratel stehenden Ost-Sektor natürlich nicht, weshalb die dort erscheinende Berliner Zeitung diesen ihr von Lanzmann angebotenen Artikel prompt veröffentlichte. Um der damit verknüpften propagandistischen Erwartung noch gehörigen Nachdruck zu geben, stellte die Redaktion neben diesen Artikel noch ein Gedicht ins Blatt, das Edwin Redslob angeblich Hermann Görings Schauspielergattin Emmy gewidmet hatte. Das geschah ohne Wissen oder Zutun Lanzmanns. Dass das Gedicht von Redslob stammt, bestreitet auch Welzbacher nicht, aber der habe das nicht als Huldigung für Emmy Göring geschrieben, sondern im Auftrag eines Kopenhagener Porzellanfabrikanten, der ein Service der Frau des Reichsmarschalls zum Geschenk machen wollte ...

Zwar ist Claude Lanzmanns in den Memoiren aufgestellte Behauptung, sein Artikel habe die Entlassung Redslobs aus dem Amt des FU-Rektors bewirkt, gelinde übertrieben, aber dennoch nicht so ehrabschneiderisch falsch, wie dies Christian Welzbacher jetzt darstellt. In seiner Redslob-Biographie sagt er selbst, dass dessen "Rückzug aus dem Rektorat nicht ganz unfreiwillig erfolgt" sei. Bereits im Frühjahr 1949 war seitens der Studenten der FU erste Kritik an Redslobs Amtsführung und insbesondere an der von ihm geübten Berufungspraxis laut geworden. Redslob nutzte seine Stellung dazu, um Freunden und Verwandten Posten im Lehrbetrieb zuzuschanzen.

Die Kritik zielte aber nicht auf Nepotismus, sondern vor allem darauf, dass Redslob trotz manifester Bedenken hinsichtlich der politischen Vergangenheit einzelner Kandidaten deren Berufung durchsetzte. Deswegen vor allem wurde er im April 1949, wie Welzbacher in seiner Biographie schreibt, von den Studenten öffentlich mit der Frage konfrontiert: "Welche Kraft hat der nationalsozialistische Geist an der Freien Universität?"

Vielfältigen Verstrickungen

Die Frage war in seinem Fall nur zu berechtigt, denn Redslob, der einstige "Reichskunstwart" der Weimarer Republik, hatte sich, wie sein Biograph Welzbacher materialreich nachweist, während des Dritten Reichs als umsichtiger, geschickter und allzeit bereitwilliger Mitläufer verhalten, dessen publizistisches Wirken von den Nazis als "kriegswichtig" eingestuft wurde. Dieses Prädikat hatte er sich, wie Welzbacher nachweist, mit einer Reihe von Büchern zu kulturhistorischen Themen auch redlich verdient, die in Wort- und Themenwahl geschmeidig dem angesagten Ungeist angepasst waren.

Dem verdankte Redslob nicht nur reich sprudelnde Honorare, sondern auch manche Vergünstigungen wie Kur- und Forschungsaufenthalte während des Zweiten Weltkriegs in Italien. Ganz besondere Anerkennung erfuhr sein publizistisches Schaffen, als der Reichsführer SS Himmler im August 1944 den Auftrag gab, einen bislang nur als Privatdruck vorliegenden Essay Redslobs "Goethes Begegnung mit Napoleon" in 1000 Exemplaren für die Truppenbetreuung der Waffen-SS nachzudrucken. "Goethe war dem Nationalsozialismus preisgegeben worden", kommentiert Welzbacher in seiner Biographie.

Edwin Redslob hat seine vielfältigen Verstrickungen mit dem Nazi-Regime nicht nur wie andere auch nach 1945 verleugnet, hat nicht nur sein publizistisches Wirken als Überlebenskampf in der "inneren Emigration" hingestellt, sondern er war auch so dreist, von sich zu behaupten, dem Widerstand gegen Hitler angehört zu haben. Nach dessen Beseitigung, so bekundete er, habe man ihn für das Amt eines Kulturministers vorgesehen ...

Von all dem und vielen anderen unerquicklichen Aspekten der Person Redslobs, die in der Biographie dargestellt werden, ist jetzt auf einmal in der Polemik, die sein Biograph gegen Claude Lanzmann führt, keine Rede mehr. Auch Florian Illies, der seinen Autor nun in der Zeit gegen den Angriff in der FAZ in Schutz nimmt, verliert darüber kein Wort. Eben diese mehr als seltsame Praxis, die sich ja wohl kaum mit einer plötzlichen Amnesie Welzbachers erklären lässt, rechtfertigt den Vorwurf des Rufmords an Lanzmann, den Jürg Altwegg erhoben hat.

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