Rückgabe von Raubkunst:Die Schuld der Gurlitts

Verdächtige Werke aus der Sammlung Gurlitt

Es ist ein Unterschied, ob Diebe Bilder stehlen - oder ob der Raub Teil eines Völkermordes ist. Vier der bereits veröffentlichten Werke aus dem spektakulären Münchner Kunstfund.

(Foto: dpa)

Der Vater kaufte geraubtes und beschmutztes Gut, der Sohn verbarg es. Doch die Eigentumsansprüche Gurlitts an den Gemälden, die er gekauft und verkauft hatte, bezweifelte lange Zeit niemand. Der deutsche Staat muss endlich eine Strategie entwickeln, wie er mit Plünderungen der Nazis umgehen will.

Ein Gastkommentar von James D. Bindenagel

Die deutsche Justiz geht davon aus, dass Hunderte Werke aus dem Kunstschatz des Münchner Sammler-Erben Cornelius Gurlitt von den Nazis aus jüdischem Besitz geraubt worden sein könnten. Schon die schiere Größe der Sammlung und die Art, wie sie zustande kam, zeigen, wie dringend nötig Deutschland ein Gesamtkonzept für die Rückgabe von Raubkunst braucht, jene Werke eingeschlossen, die sich in privaten Sammlungen befinden, die ganz oder teilweise durch die Plünderungen der Nationalsozialisten entstanden sind.

Diese Ausplünderung der Juden war ein essenzieller Teil des Holocausts. Sie begann im Banalen und Alltäglichen, wie es der Historiker Götz Aly eindrucksvoll in seinem Buch "Hitlers Volksstaat" dokumentiert hat, das beschreibt, wie die meisten Deutschen von den Judenenteignungen profitierten. Und sie endete im Ausgeklügelten, wie man am von langer Hand geplanten Kunstraub sieht, der die Juden traf. Dieser Raub war ein Kriegsverbrechen und Teil des Völkermordes, dessen Ziel es war, weltweit die jüdische Existenz und Kultur auszuradieren; entsprechend wurde der Kunstraub auch in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen behandelt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war klar, dass die Staaten das geraubte Eigentum hüten müssen, damit es seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden kann.

In diesem Bewusstsein verpflichten zwei wichtige Abkommen die Unterzeichnerstaaten dazu, dass möglichst alle Werke, die im Zusammenhang mit der Judenverfolgung und dem Judenmord geraubt wurden, öffentlich identifiziert und bewertet werden sollten, damit mögliche Anspruchsberechtigte ihre Rechte wahren können. Die Opfer der Judenverfolgung und ihre Nachfahren sollten nicht mehr allein die Beweislast tragen, dass diese Werke ihr Eigentum sind. Auch Deutschland hat, mit 40 weiteren Staaten, die Washingtoner Richtlinien zum Umgang mit der Beutekunst der Nazis von 1998 und die Theresienstädter Erklärung von 2009 unterzeichnet. Vor allem diese Erklärung macht deutlich, dass nicht juristische Hürden mögliche Anspruchsberechtigte dafür bestrafen sollen, dass sie ihre Ansprüche erst jetzt stellen.

Merkwürdigerweise scheint dem Augsburger Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz diese unbekannt zu sein. Er hat seine Entscheidung, den Fund der Bilder geheim zu halten, damit begründet, er wolle nicht "Glücksrittern" die Gelegenheit geben, falsche Ansprüche durchzudrücken. Selbst wenn man vernachlässigt, dass diese Sprache an den Wortgebrauch der Nazis erinnert, ist die Vorstellung bemerkenswert: Das wahre Problem ist also das Risiko, dass da jemand falsche Ansprüche stellen könnte - und nicht, dass es Hunderte tatsächlicher Ansprüche geben könnte oder dass Hildebrand Gurlitt seine Sammlung aufbaute, indem er mit Eigentum handelte, das den Juden geraubt worden war, sei es direkt oder indirekt durch den Druck, Wertvolles unter Preis verkaufen zu müssen.

Gurlitts Interesse an der als "entartet" diffamierten Kunst ermöglichte es ihm, von einem Gesetz vom Mai 1938 zu profitieren, in dessen Folge mehr als 5000 Werke aus den öffentlichen Museen in Deutschland verschwanden. Noch schwerer wiegt allerdings die Bereitschaft der deutschen Behörden zu erklären, dass eine Reihe von Werken der Gurlitt-Sammlung klar und eindeutig Cornelius Gurlitt gehören. Es sieht so aus, als betrachte Oberstaatsanwalt Nemetz die Sammlung einfach als ein Set individueller Werke und nicht als das Ergebnis des bewussten Handels mit geraubten und unsauber erworbenen Bildern.

Kann der Bund im Fall Gurlitt untätig bleiben?

Es scheint, als habe man sich nie gefragt, ob Gurlitts Eigentumsansprüche an einem Gemälde, das er gekauft oder verkauft hat, zweifelhaft sein könnten. Oder ob er Werke unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen erhalten und deshalb nie Rechte an ihnen erworben hat.

Die Justiz ist in Deutschland unabhängig, zum Glück. Dennoch muss nun die Bundesregierung entscheiden, ob der Augsburger Oberstaatsanwalt in dieser Angelegenheit das letzte Wort haben sollte. Kann der Bund tatsächlich untätig bleiben, wenn, auch durch Cornelius Gurlitts eigene Auskünfte über seinen Vater, immer deutlicher wird, dass die Gurlitts keine Unschuldigen waren? Sie waren Händler, die hätten wissen müssen, was sie taten. Sie sammelten Bilder in vollem Bewusstsein darüber, was sie taten - und als der Krieg vorbei war, wussten sie auch, dass es falsch gewesen war. Kann der Bund tatsächlich kein Interesse anmelden an der Raubkunst in der Sammlung oder an den anderen Werken, die möglicherweise gekauft werden konnten, weil geraubte Bilder verkauft wurden? Bedeutet es keinen Unterschied, ob Bilder als Teil eines Genozids geraubt oder von gewöhnlichen Dieben gestohlen wurden? Sollte man nicht doch prüfen, inwieweit die Prinzipien und Grenzen des internationalen Rechts auch innerhalb des deutschen Gesetzesrahmens zur Geltung gebracht werden können?

Deutschland hat mehr als alle anderen Nationen getan, um den Schrecken des Holocausts aufzuarbeiten. Durch die Entschädigungen, die immer noch weiterlaufen, und durch ein umfassendes Erziehungsprogramm hat Deutschland gezeigt, wie Nationen sich mit dem Bösen auseinandersetzen können. Das ist so, weil die Verbrechen in Deutschland ihren Ursprung hatten, und doch unterscheidet es Deutschland von vielen Nationen, die sich nie den historischen Verfehlungen gestellt haben, für die sie verantwortlich sind. Das hat Deutschland zu diesem außergewöhnlich starken Verfassungsstaat gemacht, der er auch bleiben sollte.

Große Nationen tragen schwierige und schmerzhafte Dinge mit sich - wir in den Vereinigten Staaten haben hundert Jahre Kampf und Mühe gebraucht, um uns der Hinterlassenschaft der Sklaverei und der Rassendiskriminierung zu stellen. Deutschland als große Nation muss nun zeigen, dass das Land willens ist, die Jahrzehnte der Untätigkeit in Sachen Raubkunst zu überwinden.

Es ist an der Zeit, dass der deutsche Staat eine Strategie entwickelt, wie mit der Gurlitt-Sammlung und überhaupt mit den Plünderungen der Nazis umgegangen werden soll. Es ist an der Zeit, mehr gesetzgeberische Phantasie und Energie darauf zu verwenden, Raubkunst den wahren Eigentümern zurückzugeben - mehr Energie, als sie damals die Nazis aufwendeten, diese Kunst ihren Eigentümern wegzunehmen. Deutschland muss seine staatliche Kraft einsetzen, um ein Zeichen zu setzen, das künftigen Generationen zeigt, wie das Unrecht aufgearbeitet werden kann, das während des Völkermords geschah. Das ist es, was große Nationen tun.

James D. Bindenagel war bis 1989 stellvertretender US-Botschafter in Ostberlin und dann Sonderbeauftragter für Holocaust-Angelegenheiten. Er ist Vizepräsident der DePaul University in Chicago, Übersetzung: Matthias Drobinski

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