Rudolf Steiners "Eingebungen":Hat er abgeschrieben?

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Bis heute behandeln Anthroposophen Steiners Lehre wie eine ewige Wahrheit . Wer's glaubt, wird selig, sagt jetzt ein Historiker.

Alex Rühle

Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien untersucht momentan auf Drängen des Bundesfamilienministeriums, ob zwei Bände aus der Gesamtausgabe der Werke Rudolf Steiners auf den Index zu setzen sind. Es geht dabei um zwei Vortragsreihen, die eine von 1908, die andere von 1910, in denen Steiner die Menschenrassen bezüglich ihrer Hautfarbe und ihres Standes in der Menschheitsentwicklung untersucht.

So sah Rembrandt Moses nach dem Empfang der zehn Gebote. (Foto: N/A)

Nun lesen Jugendliche kaum je Steinerschriften. An den Waldorf-Schulen gilt Steiner als extrem uncool, schließlich hat der ihnen die Eurythmie, also das esoterische Tanzen in langen Gewändern eingebrockt. Und die Bundesprüfstelle überprüft ja dezidiert, ob ein Werk jugendgefährdend ist. Insofern könnte man meinen, es gebe drängendere Probleme als diese verstaubten Pamphlete. Das Problem ist ein anderes. Es liegt in der sakrosankten Rolle, die Rudolf Steiner für viele Anthroposophen und Waldorflehrer noch immer einnimmt und der damit einhergehenden Blockadehaltung aller Kritik gegenüber.

In einem der inkriminierten Texte heißt es über den "Neger": "Weil er das Sonnige an der Oberfläche in seiner Haut hat, geht sein Stoffwechsel so vor sich, wie wenn er in seinem Innern von der Sonne gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird fortwährend richtig gekocht." Die Charakterisierung läuft darauf hinaus, dass die Schwarzen ein fehlerhaftes, längst überholtes Modell, die Weißen aber das eigentliche Ziel der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Rassen sind.

Nun sind solche Texte Zeugnis einer um 1900 fast schon "normalen" radikalisierten europäischen Kulturarroganz. Das Problem ist ihre Rezeption: Die Anthroposophen haben zwar selbst immer wieder Literatur zu Steiners Rassenvorstellungen verfasst. Diese aber, so der Historiker Helmut Zander, ist wissenschaftlich "fast vollständig unbrauchbar, weil sie ein weltanschauliches Interesse verfolgt. Sie zielt auf eine harmonisierende Rekonstruktion und eine werkimmanente Plausibilisierung".

Allergische Absetzung von aller philologischen Forschung

Zander, zur Zeit Professor an der Berliner Humboldt-Universität, hat soeben eine 1800 Seiten dicke Untersuchung vorgelegt ("Anthroposophie in Deutschland", Vandenhoeck & Ruprecht), ein monumentales Werk, in dem zum ersten Mal die Geschichte der anthroposophischen Bewegung in Deutschland wissenschaftlich nachgezeichnet und die Schriften Steiners historisch-kritisch beleuchtet werden. Kaum zu glauben: Nie zuvor hat sich jemand die Mühe gemacht, Steiners Gesamtwerk intertextuell zu verorten.

Von anthropologischer Warte aus hat das drei Gründe: Steiner entwickelte die anthroposophische Lehre in geradezu allergischer Absetzung von aller philologischen Forschung. Für ihn war das Unglück der historisch-kritischen Theologie, dass aus heiligen Schriften irdische Schriftstücke ihrer Zeit geworden waren.

Zweitens behauptete Steiner, seine Erkenntnisse aus der heiligen "Akasha-Chronik" zu haben, einer imaginären Weltenchronik, die in einer Geheimsprache abgefasst ist. Kein Wunder, dass es in all seinen Texten raunt und west, als hätte Heidegger ontologisch einen über den Durst getrunken: Steiner hat sein Wissen dem Urgrund des Seins abgelauscht. Wer ihm diese Fähigkeit aber abnimmt, hat kein Interesse daran, philologische Kleinstarbeit zu betreiben und nüchtern zu schauen, welche Motive, Themen, Schlüsselwörter in anderen Texten seiner Zeit auftauchen.

Unhinterfragbare Autorität

Drittens präsentierte sich Steiner aufgrund dieser Seher-Fähigkeiten als unhinterfragbare Autorität, die, ob es nun um Medizin, Landwirtschaft oder die Menschheitsgeschichte ging, alles wusste. Einer Lehrerin der ersten Waldorfschule antwortete er auf ihre Feststellung, dass sie ein Kind seit vier Jahren kenne: "Und ich kenne es schon von vor seiner Geburt her!" Und als er einem Reformpädagogen bei einer Führung durch die Schule auch den Eurythmieunterricht zeigte und dieser fragte, woher Steiner wisse, "dass diese festgelegten Bewegungen den Urbewegungen der Laute entsprachen", erhielt er "die bezeichnende Antwort: 'Das ist so.' "

Helmut Zander deckt nun mit großer philologischer Sorgfalt auf, dass es eben gerade nicht einfach "so ist", dass Steiners Texte nicht aus überirdischen Quellen, sondern aus irdischen Büchern stammen und dass die anthroposophische Weltanschauung einfach Teil einer mit der deutschen Tradition eng verbundenen Religions- und Weltanschauungsstiftung ist, die Orientierungsprobleme der Zeit um 1900 zu bewältigen versucht.

Steiner kam um die Jahrhundertwende in Berührung mit der Theosophischen Gesellschaft, einer synkretistischen Vereinigung, die in einer Art interreligiösem Esperanto alle religiösen Widersprüche aufzuheben versprach. 1902 wurde er Vorsitzender der "Deutschen Sektion der theosophischen Gesellschaft Adyar" und 1904 zum "Erzwärter" der Esoterischen Schule ernannt. Ab 1907 wurde die Theosophische Gesellschaft von Annie Besant geleitet, einer englischen Freimaurerin, die in Jiddu Krishnamurti eine Art transökumenischen Messias sah.

Während nun bis heute anthroposophische Lehrmeinung ist, Steiner habe sich 1912 schweren Herzens von der Theosophischen Vereinigung getrennt, weil er die Wiederkunft Christi in einem Hindujungen nicht habe akzeptieren können, legt Zander dar, dass Steiner diese unterschiedlichen Vorstellungen dazu instrumentalisiert habe, "um die Theosophie eurozentrisch umzudeuten und machtpolitische Ambitionen im theosophischen Führungskreis durchzusetzen". Während die Theosophie im wilhelminischen Deutschland mit ihren anglo-indischen Theorien und fernöstlichen Heiligen auf Ablehnung stieß, war Steiners Versöhnung theosophischer Esoterik mit Goethe und Christus höchst attraktiv.

Vor allem aber deckt Zander auf, wie viel Steiners Visionen theosophischen Schriften verdanken. So übernahm er das Modell der Seelenwanderung, um östliche Karmalehren mit christlicher Heilslehre zu verbinden. Und die Waldorfpädagogik wird unter Zanders Lupe zu einer Spielart theosophischer Reformpädagogik. Steiner hat nicht, wie es in einigen Biographien heißt, "viele Jahre auf die Begründung einer neuen Pädagogik hingearbeitet".

Steiners Veranstaltungen waren oft ausverkauft. (Foto: N/A)

"Dann bleibt noch eine Astralhülle bis zum Eintritt der Geschlechtsreife"

Er kannte, als sich ihm 1919 überraschend die Möglichkeit bot, eine Schule zu eröffnen, den theoretischen Hintergrund der Reformpädagogik nur oberflächlich und griff auf Bekanntes zurück: auf Erinnerungen an die eigene Schulzeit und auf theosophische Postulate. So übertrug er die theosophische Lehre von der menschlichen Entwicklung in Sieben-Jahres-Schritten ("Bis zur Zeit des Zahnwechsels ist der Mensch von einer Ätherhülle und einer Astralhülle umgeben. Während des Zahnwechsels entlässt die Ätherhülle den Ätherleib: Dann bleibt noch eine Astralhülle bis zum Eintritt der Geschlechtsreife") auf den Schulplan. Er sampelte Haeckels biogenetische Grundgesetze und Tuiskon Zillers Kulturstufentheorie, der zufolge jeder Mensch in seiner Entwicklung die verschiedenen Kulturstufen der Menschheit durchlaufe.

Nun ist nichts dagegen zu sagen, dass Steiner erst im chaotischen Alltag des ersten Schuljahres, quasi "learning by doing", zu seinen Konzepten fand. Unheimlich aber ist, dass gerade dieses Schulkonzept, das so hastig zusammengezimmert wurde wie kein anderes, im Moment des Entstehens schockgefroren und zur unhinterfragbaren Leitlinie für alle Waldorfschulen wurde. Während etwa Zillers Kulturstufentheorie zu dem Zeitpunkt, da Steiner bei ihm abschrieb, allgemein als Humbug galt, bildet der kulturanthropologisch begründete Epochenunterricht bis heute das konstitutive Gliederungsschema des Unterrichts in den Waldorfschulen. Wer sagt einem da, dass irgendwelche Rassentheorien nicht immer noch durch einige Klassenzimmer geistern? Was die Studieninhalte der Waldorf-Lehrer angeht, so liegt der Schwerpunkt der Ausbildung schließlich bis heute auf Steiners Schriften.

Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, die Verdienste der Anthroposophie zu schmälern oder die Waldorfschulen des Rassismus zu beschuldigen. Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, der vor zwei Jahren 20000 Jugendliche zu Gewalt und Rassismus befragte, betont, dass die "extrem niedrige Ausländerfeindlichkeit gerade an Waldorfschulen ein Indiz für erfolgreiche pädagogische Arbeit gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus an diesen Schulen" sei. Das Problem ist, wie noch immer mit Steiners Werk umgegangen wird. Beziehungsweise wie es umgangen wird, indem man es auf einen Sockel hebt. Erst kürzlich wieder haben drei angehende Lehrer des Berliner Seminars für Waldorfpädagogik den Dienst quittiert, weil sie die Steiner-Verehrung pädagogisch für nicht vertretbar hielten. Jede Form kritischer Fragen sei abgeblockt worden und hätte ihre persönliche Abwertung zur Folge gehabt.

Große Chance für die Anthroposophen

Helmut Zanders Untersuchung birgt für die Anthroposophen eine große Chance. Seine Belege für Steiners Eklektizismus sind derart schlagend, dass ein generelles Verleugnen seiner Befunde Indiz für eine geradezu gruselige Engstirnigkeit wäre. Wenn man aber zugibt, dass Steiner nicht vom Weltgeist diktiert bekam, sondern sich von zeitgenössischen Quellen inspirieren ließ, dann könnte man sein ganzes Werk kritisch befragen. Na und? Worin läge das Skandalon? Der Skandal ist doch, dass viele bis heute nicht dazu bereit sind, das zu tun.

Was den Rassismus angeht, so wird von Anthroposophen gerne behauptet, Steiner habe die inkriminierten Passagen später zurückgenommen; die Schriften seien Ausrutscher aus seiner theosophischen Phase. Zander belegt, dass Steiner an diesen Vorstellungen festhielt und sie noch zwei Jahre vor seinem Tod in Vorträgen wiederholte. Insgesamt habe er, so Zander, "eine Ethnologie formuliert, in der die Rede von 'degenerierten', 'zurückgebliebenen', 'zukünftigen' Rassen keine 'Unfälle', sondern das Ergebnis einer konsequent durchgedachten Evolutionslehre waren. Ich sehe im Gegensatz zu vielen Anthroposophen keine Möglichkeit, diese Konsequenzen zu bestreiten."

Aus dem Goetheanum, der Zentrale der Anthroposophischen Gesellschaft, sind übrigens erfreuliche Stimmen zu hören zu Zanders Studie. Der Pressesprecher sagt, man sei "erfreut über die differenzierte Analyse, die ja in Kontrast zu unserer Binnensicht steht." Und Robin Schmidt, Mitarbeiter der "Forschungsstelle Kulturimpuls", schreibt in einer ausgewogenen Stellungnahme, Zanders Buch liefere über Jahre hin Stoff für weitere Arbeiten.

© SZ vom 18.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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