Rudolf BorchardtPaulkes letzter Tag

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Die Zeitschrift "Sinn und Form" stellt ein unbekanntes Erzählfragment, ein Paulke-Stück aus der Zwischenkriegszeit, von Borchardt vor.

Von Gustav Seibt

Ein Kreditbetrüger steht vor der Verhaftung. Da wird die Anzeige im letzten Moment verschoben. Die gewonnene Frist wird für Arthur Paulke zum letzten Tag. Eine kurze Verwechslung auf der Straße - er wird für einen Grafen gehalten - lässt ihn vorwärtsstürzen in eine neue, den Untergang aufschiebende Rolle. Aus Paulke wird "Graf Otto Pawel-Paulinken, linke Ecke Schloss Paulinken, rechte Ecke Dresden Augustusplatz 5", wie eine eilends gedruckte Visitenkarte mit allerlei Postdetail ausführt. Neue Tasche mit Grafenwappen zur ohnehin sportsmäßigen aristokratischen Ausstattung: "'Adlon' sagte er gleich drauf zu einem bremsenden Taxi."

Das sensationelle Erzählfragment Rudolf Borchardts, welches im neuen Heft der Zeitschrift Sinn und Form (5. Heft, 2016) mit einem instruktiven Nachwort von Johannes Saltzwedel abgedruckt ist, hat nur neun Druckseiten. Aber so rasant, so überbordend voll mit sozialem Detail sind diese gelenkig federnden Perioden, dass man einen ganzen Zeitroman darin wiederfindet.

Borchardts "Comédie humaine" zur Zwischenkriegszeit sollte "Die mageren Jahre" heißen

Für eine Serie solcher Romane zur deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit war das Mitte der Dreißigerjahre aufs Papier geworfene Paulke-Stück als abschließende Episode gedacht. Borchardt plante "Die mageren Jahre" als Comédie Humaine der Weimarer Zeit, Paulkes letzter Tag - am Ende sollte der Held am Selbstmörderstrick baumeln - war einem früheren Plan zufolge für das Datum der "zweiten Hindenburgwahl" (13. März 1932) vorgesehen, dem unmittelbaren Vorlauf von Hitlers Machtergreifung.

Das ausgeführte Fragment spielt aber im Juni: Berlin schwankt zwischen sinnlos schönem Blau und einem indefiniblen Aroma des Staubigen. Der Text kombiniert Bewusstseinsprosa und in jedem Einzelzug präzise Gesellschaftsbeobachtung. Paulke kann nicht mit Felix-Krull-Behaglichkeit aus dem Rückblick berichten, er stürzt vorwärts im Gleichschritt mit den abschnurrenden Stunden vor dem Untergang.

Satz für Satz könnten heutige Schreibseminare an diesem Text verknapptes Erzählen studieren

Die neue Rolle, eine ungeahnte Vornehmheit, ergreift ihn nicht nur äußerlich, für Viertelstunden wird er zum souveränen Edelmann. Nur wenn er sich aus Geldgründen bloß ein vulgäres Bier mit Wurst gönnt, fällt der schon "aus der Causalität" Entflohene in seine alte Rolle zurück. Mit Blick auf den Schankkellner, der ihm zu viel Schaum zum Wegblasen auf den Bierkrug gesetzt hatte, sagt der falsche Graf "zu dem ramponierten blauweissen Mädchen hinter dem Glaskasten mit den Farbenbrötchen, 'Mit dem Schaumschläger lassen Sie sich man nich ein, Miss, sonst müssen Se blasen bis Sie außer Puste sind'" - Hans Fallada in Pillenform.

Aber natürlich steckt stilistisch so viel mehr in diesem Text, der auf die zeitgenössische Neue Sachlichkeit nur anspielt, so viel, dass er Satz für Satz in einem der heutigen Schreibseminare durchgeprüft werden könnte, um an ihm das verknappte Erzählen zu studieren. Für einen Doderer-artigen Autounfall braucht Borchardt nur eine Viertelseite. Allerdings: Erlernbar ist das selbstverständlich nicht.

Der ungeheure, ungeheuer lustige kleine Text lässt noch einmal zwingend erscheinen, dass Rudolf Borchardts noch ungedruckter Tausendseiter, der jüngst unter dem Titel "Weltpuff Berlin" ( SZ vom 19. Mai) debattiert wurde, endlich freigegeben und veröffentlicht wird. Vielleicht wird man danach wirklich die deutschsprachige Literatur der ersten Jahrhunderthälfte neu kartografieren müssen.

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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