Rudolf Borchardt: "Deutsche Denkreden":Die Toten zu den Lebenden einladen

Rudolf Borchardt: "Deutsche Denkreden": Rudolf Borchardt.

Rudolf Borchardt.

(Foto: Ullstein/picture-alliance / dpa)

Gelehrte Prosa, deren Schönheit in Genauigkeit besteht: Rudolf Borchardts "Deutschen Denkreden".

Von Gustav Seibt

Anthologien sind Bücher aus Büchern, die fügen fremde Texte zu einem neuen Gebäude zusammen. Oft setzen sie das Verschwinden einer Tradition voraus, die nur noch in Bruchstücken vergegenwärtigt werden kann. Oder sie dienen für Anfänger zum Einsteigen und Hinausfahren ins Meer des zu Lesenden. Anthologien stehen immer wieder für Zeitenwenden. Geschmacksveränderungen, Verschiebungen im Kanon, lassen sich präzise an solchen Bücherbüchern ablesen.

Das ambitionierteste Anthologienprogramm der deutschen Literaturgeschichte setzten Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt vor 100 Jahren ins Werk, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die beiden Dichterfreunde sahen schon vor 1914 die Überlieferung des "deutschen Jahrhunderts" von 1750 bis 1850 in Gefahr, weniger die Klassiker des Höhenkamms als ihre literarische und wissenschaftliche Umgebung. So sollten Hofmannsthals "Deutsches Lesebuch" und drei Zusammenstellungen Borchardts zur Landschaftsliteratur, zur Lyrik und zur akademischen Rhetorik exemplarisch eine versinkende Welt retten.

"Ich soll hier vom Bruder reden, der doch im Traum, ohne Ahnung seines Abscheidens immer noch neben mir ist"

Diese bibliophil von der "Bremer Presse" gedruckten Schatzhäuser kursieren bis heute, am erfolgreichsten Hofmannsthals "Lesebuch", das in diversen Neuauflagen immer noch viele Anfänger zu Autoren wie Karl Philipp Moritz oder Johann Gottfried Herder verführt, ähnlich den Nachtprogrammen Arno Schmidts. Von Borchardt überlebt vor allem "Der Deutsche in der Landschaft" aus dem Jahr 1927 (kürzlich bei Matthes & Seitz wiederaufgelegt), eine Reihe musterhafter Prosatexte zur Natur, die von Stimmungsbildern bis zu wissenschaftlicher Geographie ausgespannt sind.

Der am wenigsten bekannte Teil dieses koordinierten Unternehmens sind die von Borchardt zusammengefügten "Deutschen Denkreden", erschienen 1925. Die darin gesammelten Stücke sind akademisch-wissenschaftlich, sie enthalten Ansprachen von Schülern über ihre Lehrer, von Wissenschaftlern zu ihren Vorläufern. Oft sind es Nekrologe, rühmende Nachrufe. Die meisten wurden tatsächlich vorgetragen, und wenn man sie liest, ersteht unwillkürlich das Bild eines menschlichen Zusammenhangs zwischen dem Sprecher, seinem verehrten Meister und den Zuhörenden, die in diese Überlieferungsreihe eintreten. Tradition als Zusammenhang von Toten, Lebenden und Künftigen wird in solchen herben Prunkstücken, die Trauer und Ruhm ausgleichen, erfahrbar.

"Ich soll hier vom Bruder reden, den nun schon ein halbes Jahr lang meine Augen nicht mehr erblicken", begann Jacob Grimm 1859 seine Ansprache auf Wilhelm Grimm in der Preußischen Akademie, "der doch im Traum, ohne Ahnung seines Abscheidens immer noch neben mir ist." Damit hat er uns, die nachlesenden Hörer, im ersten Moment. An derselben Stelle hatte Carl Ritter 1844 in einer Rede auf Alexander von Humboldt den Bogen um die ganze Welt geschlagen: "Wir feiern heute einen Festtag, den mit uns alle Akademien in Europa, wie alle wissenschaftlichen Vereine der andern Erdteile, in Nord- und Südamerika, wie in Bombay und Kalkutta, am Kap der Guten Hoffnung und in Australien mitfeiern werden." Es war Humboldts 75. Geburtstag, ein Moment berechtigten Stolzes.

Pietät, ein heute sträflich unbekanntes, erhebendes Gefühl

Wer noch nie etwas von Friedrich Leo oder Karl Lachmann gehört hat, begreift, worum es geht: um Pietät, ein heute sträflich unbekanntes, erhebendes Gefühl. Leos Worte, gesprochen in Göttingen zum 100. Geburtstag in Göttingen 1893, zeigen Liebe: "Unter den akademischen Bürgern der Georgia-Augusta erschien im Herbst des Jahres 1809 Karl Lachmann als sechzehnjähriger Knabe und wanderte erst im Jahre von Belle-Alliance als Göttinger Privatdozent und als freiwilliger Jäger für immer aus unseren Toren." Jugendlicher Patriotismus, der in die Schlacht von Waterloo führt, verbindet sich mit der Grundlegung der Germanistik, und immer noch lebt man in denselben Studierstuben.

Solche Töne sind es, die Walter Benjamin im Kampf gegen die nationalsozialistische Usurpation zu einer Nacheiferung der Bochardtschen Anthologien bewegten. Benjamins Briefe-Sammlung "Deutsche Menschen" gehört in diese Linie. Leo, ein Verwandter und Lehrer Borchardts, stammte aus einer jüdischen Familie, und wie Lachmann hatte er als Freiwilliger patriotisch gekämpft, 1870/71 im Krieg gegen Frankreich. Das sind Parallelen, die 1925 noch fühlbar waren und daher als Zeichen gegen die antisemitische Version des Patriotismus gelesen wurden.

Wenn nun die "Deutschen Denkreden" im Rahmen der neuen umfassend kommentierten Werkausgabe Rudolf Borchardts erscheinen, dann musste der Text in der ursprünglichen Druckgestalt faksimiliert werden, denn die "Bremer Presse" hatte dafür eine eigene, am Humanismus und der Karolingischen Schrift orientierte Typographie entwickelt. Der dreimal so lange Kommentar füllt einen Extraband. Der Umfang erklärt sich auch dadurch, dass hier zusätzlich noch die Fragmente eines nicht ausgeführten weiteren Anthologien-Projekts aufgenommen wurden, eines Lesebuchs zur deutschen Wissenschaft um 1800. Es war als "Grundvesten der Bildung deutscher Nation" geplant und sollte zwei Bände mit zusammen 700 Seiten umfassen. In diesen "Grundvesten" hätten programmatische Selbsterklärungen, Einleitungen, Antrittsvorlesungen aus allen Fächern ihren Auftritt bekommen, von der Philologie bis zur Naturwissenschaft. Gelehrte Prosa, deren Schönheit in Genauigkeit besteht, die idealischen Höhenflug erst glaubwürdig macht.

Seelenstärkenderes ist derzeit nicht zu haben

Das "Grundvesten"-Projekt war selbst Antwort auf eine Rede, auf die banale Abfertigung des philosophischen deutschen Idealismus durch einen Hygieneprofessor und Rassentheoretiker, der damit 1924 seine Antrittsrede als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften bestritt. Borchardt selbst hatte auf die Ansprache jenes Geheimrats Gruber mit einer witzigen Polemik reagiert, die zu einer monatelangen Debatte in den Münchner Zeitungen führte.

So sind die Geschichten beschaffen, die der Kommentar Gerhard Schusters zu den beiden Anthologievorhaben - den nicht realisierten "Grundvesten" und den realisierten "Denkreden" - ausgräbt. All dies zusammen, die von Borchardt ausgesuchten Musterstücke und die Erklärungen des Kommentars, ist ein unvergleichliches Leseabenteuer. Die Fülle unbekannten Wissen, das dabei zusammenkommt, ist atemberaubend.

Die Leitfrage wird durch Borchardts Biographie bestimmt - was bedeutet Herder für Borchardt, da er seine Sammlung mit einem Herder-Text beginnt? Wir erfahren es, hinein bis in die Bestandskataloge der von Borchardt als Student benutzten Universitätsbibliotheken. Wie verliefen die Diskussionen zwischen dem Herausgeber und dem Verleger der "Bremer Presse"? Lange Sitzungsprotokolle lassen die Skrupulosität der Auswahl erkennen. Seitenblicke zu Vorläufern und Nachahmern von Borchardts Anthologien zeigen dazu die Binnentradition solcher meist schulischen Sammlungen. Das ist Bildungsgeschichte an der Basis, wo Menschen zum ersten und oft einzigen Mal mit klassischen Texten in Berührung kommen.

Bücher und Menschen: Arno Schmidts Doppelung gilt auch hier. Der Kommentar erzählt die Lebensgeschichten der mithelfenden Jünger und Freunde von Borchardt, die bis in die zweite Nachkriegszeit lebten und seinen Einfluss auf kaum berechenbare Weise in die Literaturkritik brachten. Der Schriftsteller und Journalist Alfred Happ (1898-1961), intensiv an den "Grundvesten" beteiligt, erhält im präzisen Nebenbei ein Lebensbild, das zugleich ein Exemplum für Feuilletongeschichte ist.

Es gibt eine alte Redensweise fürs Sterben, die es als "sich zu den Toten versammeln" bezeichnet. Sie lässt sich umdrehen: Man sollte die Toten zu uns, den Lebenden, einladen. Das versuchte Borchardt mit seinen wundervollen Bücherhäusern, das leistet sein heutiger Kommentator. Seelenstärkenderes ist derzeit nicht zu haben.

Rudolf Borchardt: Deutsche Denkreden. Grundvesten der Bildung deutscher Nation. Herausgegeben und kommentiert von Gerhard Schuster. (Rudolf Borchardt, Sämtliche Werke XVI,2. Anthologien 1.) Edition Tenschert bei Rowohlt, Reinbek 2022. Zwei Bände im Schuber, 480 und 1248 Seiten, 78 Euro.

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