Süddeutsche Zeitung

Rubrik: Ein Aufsatz:Eine Kehrtwende in Europa

Jürgen Habermas über neue Fronten in der deutschen Politik und die zweite Chance nach 1989.

Von jens Bisky

Die Freunde der offenen Gesellschaft müssen Auswege aus einem Dilemma finden. So leichtsinnig es einerseits wäre, die Wahlerfolge der Rechtspopulisten und die Stärke der völkischen Szene zu ignorieren, so falsch wäre es andererseits, sich von ihnen die Diskussionsthemen vorschreiben zu lassen, ihre Definition der Krise zu übernehmen. Gegen jene Neurechten mit dem alten Plunder hat Jürgen Habermas bereits 2016 die Gegenstrategie einer "Dethematisierung" vorgeschlagen. Er warb dafür, demokratische Polarisierung an die Stelle der populistischen zu setzen.

In diesen Tagen ist ein Aufsatz erschienen, in dem Jürgen Habermas skizziert, wie das gehen könnte (Die zweite Chance. Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2020, 10 Euro). In der dichten, so überraschenden wie einleuchtenden Gegenwartsanalyse geht es, auf eine Formel gebracht, um Erfurt und die gesamteuropäische Coronakrisenbekämpfung, um deutsche Einheit und europäische Einigung. In Erfurt war am 5. Februar der FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, AfD und FDP zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt worden. Vor wenigen Wochen erst beschloss die Europäische Union einen aus gemeinsamen Anleihen gespeisten Aufbaufonds zur Bewältigung der Pandemie-Folgen, eine gemeinsame Schuldenaufnahme, die erst durch den Brexit möglich wurde und der deutschen Europapolitik des vergangenen Jahrzehnts widerspricht. Habermas erklärt diese Kehrtwende mit einer "innenpolitischen Verschiebung der Relevanzen".

Das kann er und das muss politische Analyse, wenn sie nicht ihr Thema verfehlen will, weil deutsche Einheit und europäische Einigung zusammenhängen. Die "Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats" war, wie er schreibt, "mit dem Verzicht auf die D-Mark gewissermaßen erkauft worden". Bald absorbierten die wirtschaftlichen Probleme der deutschen Einigung Aufmerksamkeit und Mittel, was einer unter mehreren Gründen dafür war, dass die mit der Einführung des Euro eigentlich unumgängliche Vertiefung der europäischen Integration unterblieb.

Mit Erfurt endete für die CDU die "Strategie der Umarmung" angeblich Irrgeleiteter

Die CDU habe den deutschen Wirtschaftsnationalismus in der Vergangenheit in eine "europafreundliche Rhetorik" eingekleidet. Mit den Erfolgen der AfD, die "Europakritik mit einem bisher unbekannt radikalen (...) nackt auftretenden, ethnozentrisch gefärbten Nationalismus" verbinde, habe sich die Machtbalance verschoben, und die Vorfälle von Erfurt haben die Haltung der Union verändert. Kurz rekapituliert Habermas die Geschichte der AfD, von nationalkonservativen Ökonomen, den Leuten aus dem Dregger-Flügel der CDU, bis hin zur Mobilisierung ostdeutschen Unbehagens an den Folgen der Vereinigungspolitik. Auf die Wahl Kemmerichs haben Angela Merkel und Markus Söder schroff reagiert; "die normative Klinge beider Äußerungen war von überraschender Schärfe". Damit endete die zweideutige "Strategie der Umarmung" angeblich Irrgeleiteter. Die Union habe damit die Partei rechts von ihr politisch anerkannt, das heißt auch: die Wähler, "die den gestiefelten nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Parolen ihre Stimme geben", haben Anspruch darauf, als demokratische Mitbürger ernst genommen, also "schonungslos kritisiert zu werden". Eine politische Frontlinie wurde geklärt und zugleich wurde die Verschiedenheit der Perspektiven, der west- wie der ostdeutschen deutlich.

Mit viel Verständnis schildert Habermas ostdeutsche Erfahrungen der Entmündigung und das Fehlen einer politischen Öffentlichkeit in der DDR wie nach dem Anschluss an die Infrastruktur der westdeutschen Öffentlichkeit. Aber zum Debakel von Erfurt gehörte auch die Falle der "Äquidistanz", auf der die damalige CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer stur beharrte, gerade gegenüber Bodo Ramelow, dem "biederen christlichen Gewerkschafter aus Hessen". Glutkern des Aufsatzes ist eine Kritik der um Tatsachen unbekümmerten Hufeisen-Ideologie, die unter Adenauer die Integration der NS-Eliten begleitete. Überfällig, so Habermas, sei der Abschied der West-CDU, "von einer moralisierenden Diskriminierung der Linken - als dem vorsorglich entlastenden Gegenbild zur historisch abgewerteten Rechten". Er verbindet dies mit einem Rückblick auf die Vergangenheitspolitik der alten Bundesrepublik, die Debatten der Neunziger. Auch hier hat sich etwas verschoben: Überzeugungen und Motive, "von denen auch das NS-Regime gezehrt hat" seien mit dem radikalen Flügel der AfD "in den demokratischen Alltag zurückgekehrt".

Da das Verständnis für historische Unterschiede in Ost und West und der historische Abstand zum Einigungsprozess gewachsen seien, da die politische Mitte die notwendige Auseinandersetzung angenommen habe, können andere Probleme in den Vordergrund rücken. Diese "innenpolitische Verschiebung der Relevanzen" ermöglicht es, nationale Kräfte "für den entscheidenden Integrationsschritt in Europa" zu bündeln. Das ist die zweite Chance, dreißig Jahre nach 1989.

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SZ vom 01.09.2020
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