Romanessay aus Frankreich:Macht euch bereit!

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Emmanuel Carrère erzählt in seinem Buch "Das Reich Gottes" vom frühen Christentum und seiner eigenen spirituellen Suche - und landete damit in seiner Heimat einen Überraschungsbestseller.

Von Alex Rühle

Ein Agnostiker, der einen weit ausgreifenden Roman über die Anfänge des Christentums schreibt. Der sich darüber hinaus nicht entblödet, eine eigene Sinn- und Schaffenskrise in diesen Text einzuweben, während er versuchte, sich durch den Glauben zu retten, täglich im Neuen Testament las, jeden Morgen zur Messe ging, strenges Bibelstudium betrieb. Das kann ja heiter werden. So eine Mischung aus "Quo vadis" und sinnstiftendem Ratgeber.

In Frankreich muss man sich erst recht gewundert haben: Emmanuel Carrère? Der hat doch zuletzt mit "Amok" die beklemmende Chronik eines fünffachen Mordes und seiner irrwitzigen Vorgeschichte vorgelegt, die sehr unheimliche, hervorragend recherchierte Biografie über einen französischen Hochstapler, der 15 Jahre lang als Arzt und Forscher durchgegangen war; als seine Lüge aufflog, erschoss der charmante Mann seine Frau, die drei Kinder und seine Eltern. Danach schrieb Carrère eine ähnlich eindrückliche und abgründige Romanbiografie über den russischen Schriftsteller, Nationalbolschewisten und Mystiker Eduard Limonow. Jetzt also "Le Royaume". Das klingt erst mal wie eine dieser Sci-Fi-Sagas, in denen Weltraum-Hightech mit Mittelalter verschmilzt.

Stattdessen Paulus und Lukas. Die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts. Und minutiöse Textexegese: Apostelgeschichte, Lukasevangelium, Paulus' Briefe an die ersten Gemeinden. Der Streit zwischen Jerusalem und dem bekehrten Paulus, der Jesus ja gar nie erlebt hat und dennoch durch seine feurigen Episteln zum Schriftführer der Geheimsekte wird. Die Etablierung des Abendmahls, das Wunder, dass aus dieser apokryphen, angefeindeten, zersprengten Gruppierung eine Weltreligion wurde - kurzum Themen, die man in spirituellen Nischenverlagen vermutet, publiziert in unverkäuflichen Broschüren. Es begab sich aber zu der Zeit, im Sommer 2014, dass aus einem einzelnen Manuskript viele Tausend Bücher wurden, "Das Reich Gottes" schoss auf Platz eins der französischen Bestsellerlisten.

Carrère lockt seine Leser in diese ferne Zeit und fremde Gesinnungswelt, indem er mit seiner eigenen metaphysischen Sehnsucht und spirituellen Suche Anfang der Neunzigerjahre beginnt, einer Phase, in der er exerzitienartige Tagebücher führte, auf deren bigotten Ton er heute nur mit ironischem Befremden reagieren kann. Das ist deshalb so geschickt, weil er so einerseits signalisiert, dass er sich intensiv mit seinem Material beschäftigt hat, und gleichzeitig Entwarnung gibt: Ich werde euch nicht bekehren, schließlich bin ich selbst Agnostiker. Gleichzeitig tappt er aber auch nicht in die Falle des dünkelhaften Intellektuellen, der allen Glauben mokant weglächelt, im Gegenteil: "Ich glaube nicht, dass ein Mensch von den Toten zurückgekehrt ist. Aber man kann es glauben, und dass ich es selbst geglaubt habe, weckt meine Neugier, fasziniert mich, wirft mich aus der Bahn. Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, da ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben."

Angesichts dieses Bescheidenheitscredos ist es nur konsequent, dass Carrère das wenige, das wir zur Verfügung haben, nie mit hollywoodesk realistischen Sandalenszenen ausschmückt. Immer bleibt klar, dass hier einer Vermutungen anstellt, Sätze wie "Es erscheint mir plausibel" oder "Mir gefällt folgende Möglichkeit" bilden sein auktoriales Glaubens-Bekenntnis.

Ausgehend von der Apostelgeschichte, dem Lukasevangelium und Ernest Renans "Das Leben Jesu", versucht Carrère, sich dem jungen Lukas an die Fersen zu heften, einem wortgewandten, griechischen Arzt, der hier zum Chronisten der Apostel wurde, weil ihn deren verrückte Lehre von der Umwertung aller Werte faszinierte. Die Schwachen werden die Starken, liebe deine Feinde. Paulus, dieser knorrige, unnachgiebige Mann mit dem lodernden Geist ist die Inkarnation dieser Umwertung, war er doch selbst einer der gnadenlosesten Christenverfolger, bis ihm auf der Straße von Damaskus Jesus erschienen ist.

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 524 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

Carrère stellt sich vor, dass Lukas Paulus eine Zeit lang auf dessen Reisen begleitet haben könnte. Er verortet seine beiden Helden in einer Kultur, die der unseren in manchem sehr ähnlich ist: Die Römer gingen an Glaubensdinge mit pragmatischem Kalkül heran, das an heutigen Laisser-faire-Laizismus erinnert: Lasst sie glauben, was sie wollen, solange sie Steuern zahlen, ist alles gut. Man zelebrierte Riten und opferte den Göttern, "aber man tat es etwa so, wie wir Weihnachten, Ostern oder Pfingsten feiern." Diesem Vakuum verdankte sich in Carrères Augen damals wie heute ein Interesse an den östlichen Religionen "und das Beste, was der Markt zu bieten hatte, war eben das Judentum". Und plötzlich diese irrlichternden Typen, die sagen, der Messias sei schon da gewesen, gestorben, wieder auferstanden und er werde bald wiederkehren, macht euch bereit . . .

Diese theologisch euphorisierte Subkultur bettet Carrère tief ein in ihre Zeit, liefert eindrückliche Porträts von Nero, Vespasian und dem alten Seneca, der hier wie ein agnostischer Christ klingt. Vor allem aber schafft er es, in diesem merkwürdigen Zwitter aus Roman, philosophischem Essay, historischer Abhandlung und persönlicher Bilanz das nie zuvor Gehörte der Evangelien so herauszupräparieren, dass man das ungläubige Staunen damaliger Paulus-Leser nachempfinden kann. Wie gesagt, das könnte schnell nach Weihrauch riechen und nach Bekenntnisschwulst klingen, wäre da nicht dieser Humor, der immer wieder überraschend um die Ecke kommt, einmal sogar in Form eines New Yorker Taxis. Darin sitzen zwei berühmte Rabbis, die einander an devoter Bescheidenheit zu überbieten versuchen, ach Verehrtester, was bin ich schon, verglichen mit Ihnen . . . Irgendwann dreht sich der Taxifahrer um: "Seit zehn Minuten höre ich Ihnen zu, wie Sie einander als Nichtsnutze beschreiben. Aber was bin ich denn dann? Ein Garnnichtsnutz!" Die Rabbiner halten verblüfft inne und raunen einander zu: "Was bildet denn der sich ein?" Dazu Carrère: "Ich sehe Lukas als diesen Taxifahrer und Paulus als einen dieser Rabbis."

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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