Romandebüt "Die Betrogenen" von Michael Maar:Radfahrer an Jasminhecke

Ganze Geschichten in Nebensätzen erzählt: Michael Maars Romandebüt "Die Betrogenen" ist ein Kunstwerk der motivischen Feinstickerei. Es bleibt ein leichter Schmerz im Nacken des Lesers - vom Kopfwenden nach den unzähligen Details.

Joseph Hanimann

Zeigen die Erstlingsromane von noch unbekannten Autoren die Frische der vollkommenen Unvorhersehbarkeit, so haben jene der gestandenen Essayisten oder Literaturkritiker schon die ganze Qualitätslast der vorhergegangenen Bücher zu tragen. Sie drückt den Erwartungshorizont gefährlich ins Gefälle der möglichen Enttäuschung.

Nicht, dass dieses Romandebüt von Michael Maar enttäuschend wäre. Der Autor hat uns aber in seinen Studien über Thomas Mann, Proust, Nabokov an eine solche Virtuosität gewöhnt, das Beiläufigste stets wieder ins Lot der Hauptsache zu bringen, dass wir den zwei Herren und der Dame, die in diesem Roman wesentlich die Handlung tragen, etwas verloren hinterher tappen. Am Schluss bleibt uns neben dem Lesegenuss ein leichter Schmerz im Nacken vom Kopfwenden nach den zahllosen Details, die auf den verschlungenen Wegen der Figuren immerfort ablenken.

Dieser Roman ist ein Meisterwerk an Feinstickerei, deren Muster auf engstem Raum sich reizvoll entfalten, der aber in der Mitte ein zentrales Rasterstück fehlt, das die Mosaikteile in Spannung hält. Für eine Milieustudie zum Literaturbetrieb - ein berühmter alternder Schriftsteller namens Arthur Bittner kokettiert im Schatten des Todes von seinem Verleger geistvoll mit seinem Verehrer und mutmaßlichen Biografen Karl Lorentz und wird selbst bald von Todesgedanken eingeholt - dafür ist das Buch zu abstrakt, sind die Nebenfiguren zu blass.

Für eine Porträtskizze des besagten Biografen, ein Mann im Konflikt zwischen Talent und mangelnder Willenskraft, der sich gern von allen möglichen Dingen ablenken lässt, ist es zu unscharf. Für eine Liebesgeschichte mit der schnell entschwindenden Tochter des Schriftstellers reicht der Stoff nicht aus. Für eine ironisch-philosophische Parabelerzählung über Freundschaft, Liebe und Tod fehlt die Zielrichtung. Für eine Kombination aus alldem entstehen zu viele Falten und Verknotungen.

Dabei beherrscht der Autor vorzüglich die Kunst des elliptischen Erzählens. Ein mit der Spitze immerfort durchs Innenfutter der Jacketttasche sich bohrender Bleistift, ein tropfender Wasserhahn, ein schwindendes Namensgedächtnis - von den Eigennamen, zitierten Buchtiteln, Opernpassagen, mythologischen Motiven ganz zu schweigen: Alle Einzelheiten der Geschichte werden sofort zu hintergründigen Anspielungen verdichtet. Der kurze Roman bringt das Unwahrscheinliche fertig, eine Art Roman-Stenogramm zu sein, zugleich aber in tausend Einzelheiten zu flimmern und den Leser mitunter sogar auf die Fährte eines Schlüsselromans zu locken - Siegfried Unseld, Martin Walser könnten einem einfallen.

Kein Eichhörnchen in den Bäumen zu geringfügig

Wie bei vielen anderen Erstlingsromanen hat sich offenbar auch hier aus Notizbüchern eine Unzahl an Betrachtungen, Überlegungen und Bildern angesammelt. Sie fanden im Kritiker Maar allerdings einen besonders strengen Zensor. Immerfort glaubt man den Radiergummi, vielmehr: die Auslöschtaste raspeln zu hören. So werden in Nebensätzen manchmal ganze Geschichten erzählt. Nach einer Preisverleihung der Grabbe-Gesellschaft schwelt da etwa in der Hotelhalle schon der Eklat zwischen zwei Streithähnen in der Auseinandersetzung über die Metaphysik in Chopins Musik, bevor das immer heitere Vorstandsmitglied Professor Cornelius, "den als ehemaligen Panzerfahrer nichts aus der Ruhe brachte", mit der Einladung hinüber zur Hotelbar das drohende Unheil abwendet.

Einen Künstlerroman im Sinne Thomas Manns, auf dessen letzte Erzählung der Titel dieses Buchs anspielt, konnte Michael Maar natürlich nicht schreiben. So spreizt er den Fokus in den Kontrast zwischen dem genialisch pointierten Bittner und dem eher im Schalen agierenden Glückssucher Lorentz, der mit seinem Verzettelungsdrang die Sache noch mehr in die Breite treibt. Kein Eichhörnchen in den Bäumen, kein Radfahrer hinter der Jasminhecke, kein Kaiserwalzer aus dem offenen Fenster, kein Kotklumpen am Boden ist ihm auf dem Spaziergang zu geringfügig, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Doch sind die gelungensten Stellen dieses Romans die beinah konventionell wirkenden Schilderungen des alternden Schriftstellers und seiner im Verborgenen reifende Schwermut. Vom Gefühl seiner Unfähigkeit, einen Vogelflug, "diese flüchtigste und schönste Erscheinung der Natur", adäquat zu beschreiben, wächst sie zum offenen Zweifel an seinem Werk und an der Kunst überhaupt.

Galt nicht schon bei den alten Chinesen neben dem Tanz oder der Kalligraphie die Folter nicht weniger als eine eigenständige Kunstform? Mag der Autor den Leser auch raffiniert, manchmal etwas penetrant davon ablenken wollen, so behalten wir diese höhere Form des sich durchschauenden Selbstbetrugs aus dem Roman in der Erinnerung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: