Als Johannes Jacobus Voskuil nach jahrzehntelangem Dienst als wissenschaftlicher Beamter im Institut für Volkskunde in den Ruhestand getreten war, schrieb er in sieben Bänden die Chronik seines Arbeitsplatzes nieder: "Het Bureau". Als die Heptalogie zwischen 1996 und 2000 erschien, löste sie in den Niederlanden eine Woge der Begeisterung aus; man wartete auf jeden neuen Voskuil fast so ungeduldig, wie man sonst nur auf den neuen Harry Potter wartete. Und das bei einem Roman, für dessen Handlung das Wort "unspektakulär" noch zu vorsichtig wäre. Es passiert ja nichts im Büro, oder auch unendlich viel, es passiert in Voskuils Büro jedenfalls viel weniger Aufregendes als etwa in den so beliebten Büro-Soaps wie "The Office" oder "Stromberg".
Der Erfolg von Voskuils Roman kommt nicht etwa daher, dass hier jemand eine beißende, humoristische oder sonst wie übertreibende Büro-Satire geschrieben hätte. Eher verbreitet das Fehlen gleich welcher Übertreibungen seine eigene, leise humoristische Wirkung. Millionen Niederländer müssen sich und ihre Arbeitsplätze in Voskuils Alltag wiedererkannt haben: Nichts passiert, oder nicht viel, aber auch diese nie aufhörenden Nicht-Ereignisse erzeugen eine Welt, so groß und dicht wie die ganze übrige Welt.
Jetzt gibt es, nachdem sich lange kein deutscher Verlag an diesen Roman herangetraut hatte, "Das Büro" auf Deutsch, jedenfalls den ersten Band, "Direktor Beerta", der die Jahre von 1957 bis 1965 umfasst (Voskuil schrieb ihn 1990/91 in wenigen Monaten nieder). 5200 Seiten lang ist das Werk insgesamt, und man wird sehen, ob sich um die folgenden Lieferungen ein ähnlicher Hype aufbaut wie in den Niederlanden. Ein Problem der Voskuil-Übersetzung, das auch die ansonsten gut lesbare deutsche Fassung nicht ausräumen kann, sind die vielen Sprachregister des Niederländischen, die bei Voskuil - es geht ja um Volkskunde und damit um Varietäten von "Kulturen" - eine große Rolle spielen.
Wahrscheinlich ist "Het Bureau" für Amsterdamer und andere Niederländer ein großes Sprachvergnügen, und das, obwohl auch ihnen das (gewollt?) Staubtrockene und Amtmannhafte in Voskuils Stil aufgefallen war. Im Deutschen kann man bestenfalls ahnen, was es heißt, wenn diese und jene Figur "im Amsterdamer Dialekt" spricht. Es gibt also, wie eines der Lieblingswörter bei Voskuils Volkskundlern heißt, eine "Kulturgrenze", die uns die volle Teilhabe an den Freuden dieses Romans erschwert.
Andererseits ist ja, Kulturgrenzen hin oder her, das Büro eine Universalie. Was sich im Institut für Volkskunde zu Amsterdam seit 1957 zugetragen hat, deckt sich bestimmt mit Büro-Erfahrungen anderswo, aber nicht notwendig zu anderen Zeiten. Denn Voskuil ruft Zeiten wach, in denen die "Gesetze des Büros", wie es einmal heißt, noch nicht von der Bertelsmann Stiftung geschrieben wurden. Eine Welt vor Evaluation, Management und ganz gewiss auch vor jeder Forderung nach Effizienz. Als guter Bürokrat sorgt Direktor Beerta dafür, dass sein Institut wächst, ohne dass der Ausstoß von Ergebnissen deshalb gleichfalls zunimmt. Das Institut für Volkskunde ist schließlich ein besonderes Büro, es ist eine wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung der Sitten und Gebräuche in den Niederlanden, mit gelegentlichen Ausflügen nach Flandern und Westfalen.
Ein Biotop, in dem sich leben lässt
Das Institut für Volkskunde beschäftigt sich mit Themen wie Wichtelmännchen oder den Varianten des Umgangs mit der Nachgeburt des Pferdes, und es hat überdies ein ehrgeiziges Langzeitprojekt, nämlich einen niederländischen Volkskunde-Atlas, der naturgemäß nicht heute und nicht morgen fertig wird, und dessen Fertigstellung weitere Mittel und Stellen erfordern wird. Was Voskuil hier ausbreitet, ist gar nicht so sehr die immerwährende Komödie des Büros, sondern die der wissenschaftlichen Institutionen und ihrer Projekte. Weniger komisch denn vor allem wahr ist die im Roman genährte Vermutung, dass institutionalisierte Forschung diesseits von eventuellen Ergebnissen zunächst einmal um sich selber kreist.
Voskuils Großversuch in eigener Sache fördert hier nichts wirklich Neues zutage, er zeigt aber immerhin, dass Bürokratie nichts Schlimmes sein muss (es sei denn, man hätte wirklich etwas gegen Ineffizienz und Immobilität). Das Institut für Volkskunde ist kein technokratischer Apparat, sondern ein Biotop, in dem sich leben lässt - und das bei überschaubarer Arbeitsbelastung.
Was dort geleistet wird, mag man als sinnlos abtun, aber es ist auch in hohem Maße unschädlich. Überdies besitzt die Volkskunde, die heute meistens "europäische Ethnologie" heißt, eine Fähigkeit mehr als andere Disziplinen, nämlich die zur Selbstbeobachtung. Konsequenterweise hat der Volkskundler Voskuil sein wissenschaftliches Werkzeug auf den eigenen Arbeitsplatz und auf das ganz besondere Brauchtum des Büros angewandt.
Die Begebenheiten dieses Büros sind demnach weniger büro- als wissenschaftstypisch: Fragebögen, Zettelkästen, Kongresse, Festschriften, Vorträge, Gremiensitzungen. Vor allem wird gequatscht. Für einen Plausch zwischen Tür und Angel ist immer Zeit, und überhaupt scheint es, als werde das allgemeine Geplauder nur sporadisch von Arbeit unterbrochen. Langzeitprojekte wie der große Atlas erfordern einen langen Atem, anders gesagt, ein kleines Schwätzchen hier und heute ist immer drin. Sich selbst hat Voskuil unter dem Namen Maarten Kooning verewigt.
Maarten, ein heller Kopf mit linken Ansichten und einem Hang zur Insubordination, will im Grunde gar nicht arbeiten. Auch die Stelle im Institut hat er nicht gesucht, vielmehr hat die Stelle ihn gefunden: "Wenn es noch irgendwo im niederländischen Wissenschaftssystem einen Winkel ohne auch nur den geringsten Anspruch auf irgendetwas gab, dann ließ er sich hier finden." Zu Hause muss sich Maarten auch noch vor Nicolien, seiner etwas schrulligen Frau, rechtfertigen, die es lieber sähe, wenn er gar nicht arbeitete.
Und immer steht irgendwo der Genever auf dem Tisch, und fast wollen einem die Niederlande der Büro-Ära als ein Eiland der Ruhe und der Trägheit erscheinen, dem gegenüber Voskuil eine ambivalente Beziehung pflegt. Zwar ist sein Roman gewiss kein Empfehlungsschreiben für das Institut für Volkskunde, andererseits aber war dieses Büro trotz allem ein Refugium für unabhängige Geister wie ihn.
Eine "Pflichtlektüre für alle Burn-out-Kandidaten", wie die heimische Presse jubelte, ist "Das Büro" dann vielleicht aber doch nicht. Das Büro der Voskuil-Jahre war ein anderes, und welcher Trost ließe sich aus der Beschreibung eines Milieus ziehen, über das immer wieder neu der Wind des "Change" geweht ist?
Man kann an diesem Roman seine Freude haben, gerade dann, wenn er die engen Grenzen des Büroraums verlässt und auf Reisen geht oder auch nur auf einen Spaziergang einer Grat entlang. Ansonsten gibt es und muss es in einem erzbürokratischen Schreibprojekt wie diesem auch Momente der Langeweile geben. Das Büroleben ist, wer weiß es nicht, monoton und repetitiv, wie sollte dann ein Roman beschaffen sein, der dieses Leben getreu beschreibt, ohne an seinen Symptomen zu erkranken? Ein Mittel wäre die Satire (man denke an Walter E. Richartz' famosen "Büroroman"), ein anderes die Miniatur (wie in Robert Walsers Büroschriften). Noch ist es zu früh, den Erfolg von Voskuils Vorhaben zu bewerten. Noch warten ja sechs Bände und 4000 Seiten auf uns.
J.J. Voskuil: Das Büro. Direktor Beerta. Roman. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. C. H. Beck Verlag, München 2012. 848 Seiten, 25 Euro.