Roman:Woher der Wind weht

Auch in seinem neuen Buch "Selbst" bewegt sich Thomas Meinecke wieder hart am Zeitgeist. Aber das Gute bei ihm ist: Er wirbelt nicht Staub auf, sondern bläst sanft über ihn hinweg.

Von Hans-Peter Kunisch

Wer alle paar Jahre Thomas Meinecke liest, bemerkt das Solitäre seiner Romane in der hiesigen Literaturlandschaft sofort. Sie schaffen es jedes Mal, auf den ersten Blick wie hart am Zeitgeist zu wirken, sind sich aber, von "Tomboy" bis "Selbst", über beinahe zwei Jahrzehnte untereinander derart verwandt, dass sie bei genauerer Überlegung den Eindruck vermitteln, in der Welt verändere sich nichts Wesentliches - Meinecke und der Zeitgeist erst recht nicht.

Das liegt am leichten, lässigen Sound dieser Romane, der so schwerfälligen Dingen wie Weltwirtschaftskrisen, Rechtsradikalismen, Terroranschlägen, islamischem Fundamentalismus und allem, was uns gegenwärtig so umtreibt, im Handumdrehen den skandalisierenden Wind aus den Segeln nimmt. Im Vorbeigehen überführt Meinecke diese Dinge in die halb akademischen, halb nichtsnutzigen, aber immer flackernd-wandelbaren Diskurse seiner oft der studentischen Bohème zugehörigen Figuren. Sie drehen sich in Endlosschlaufen um sich selber, sind aber auch gerne bereit, alles, was gerade an aktuellem Halb- und Dreiviertelwissen in der Welt herumschwirrt, in ihre gescheiten Überlegungen mit einzubeziehen.

Zur Lebenswelt gehört hier auch klassisches Bildungsgut, avantgardistisch verschnitten

Selbstverständlich darf in Meineckes neuem Roman "Selbst" etwa die Diskussion über den Schleier nicht fehlen. Der Hijab, zitiert Meinecke Sumaya Elland aus dem Internet auf Englisch, "kann eine Hürde in Deiner Wahrnehmung durch die Leute sein und sie daran hindern, sich mit Dir identifizieren zu können. Aber ich denke, gerade darin liegt die Schönheit der Verhüllung. Du bist dazu gezwungen, Dich mit Dir selber und Deiner eigenen Identität auseinanderzusetzen."

Thomas Meinecke im Plattenladen "Optimal" in München, 2015

Der DJ, Musiker und Schriftsteller Thomas Meinecke im Plattenladen Optimal in München.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Ja, auch der neue Meinecke spielt mit gendertheoretischen feministischen Positionen, die diesmal durch die aktuelle Szene-Konjunktur von Pornofilmen etwas schärfer körperorientiert daherkommen: die jeweiligen Geschlechtsteile werden passagenweise ausführlich gemustert, und auch theoretisch wird umfassend Körperarbeit getrieben. Das gibt diesem Roman über längere Passagen etwas Intimfixiertes, manchmal denkt man: Haben die nicht mehr im Kopf? Aber alles in allem passt es nicht schlecht in eine Zeit, in der, je nach Abend, zu "Downtown Abbey" oder Pornofilmen gekuschelt wird, nachdem den Kleinen in ihren Bettchen heile Kinderbücher vorgelesen wurden. Hat die Spießigkeit die Überschreitung mal wieder eingeholt?

Aber auch Geschehnisse in Politik und Medien spielen bei Meinecke eine Rolle. Ganz offensichtlich wurden weite Teile des Romans 2013 geschrieben. Immer wieder finden sich datierte Erzählsplitter aus dieser Zeit. Die Proteste vor der damals noch geplanten, neuen Frankfurter EZB-Zentrale werden von den Protagonisten genauso mitgenommen wie die Verleihung der MTV-Awards im selben Jahr. Das heißt nicht, dass das Eigentümliche der Meinecke-Texte darin bestünde, verzweifelt aktuell sein zu wollen. Zur Lebenswelt der in diesen Romanen herumlümmelnden Leute gehört auch klassisches Bildungsgut. Es wird nur leicht avantgardistisch verschnitten.

Eine der interessantesten Leitfiguren des Buches ist die Romantikerin Bettina von Arnim. Sie ist dargestellt als die frühe, recht freie Frau, die sie war. Aber sie wird von Meinecke auch auf amüsante Weise in die Gegenwart geholt. Er zitiert den hoffnungslos mahnenden Brief, den ihr Bruder Clemens von Brentano an Bettina nach ihrem öffentlich gemachten Aufenthalt auf Goethes Schoß schickte. Und schließt ihn kurz mit dem ähnlich bestürzten, öffentlichen, moralischen Appell, den Sinead O'Connor an Miley Cyrus sandte, als diese bei den MTV-Awards als laszive Bärin aufgetreten war, und sich in Sineads Augen für Männer & Kommerz zum Affen gemacht hatte, wie früher sie selbst.

Roman: Thomas Meinecke:  Selbst. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 472 Seiten, 25 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Thomas Meinecke: Selbst. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 472 Seiten, 25 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Die Welt der Meinecke-Figuren ist geprägt durch eine relativierende Totalität der Wahrnehmung, die zur Pflicht geworden zu sein scheint. Es wird nichts mehr weggeblendet, aber es bedeutet auch kaum mehr etwas, dass alles wahrgenommen wird. Das Individuum wird zum Opfer der Erwartungen an seine Fähigkeiten zum geistigen Multitasking. Es begibt sich freiwillig hinter den Mond oder reflektiert lässig, wie Meineckes Eva: "Ich bin zum Beispiel ja auch mit Frauen gern sexy, ohne dass die Frage nach der sexuellen Orientierung aufkommt. Warum?"

Die Anzieh-Moden unterläuft der Autor durch das konsequente Tragen eines Holzfällerhemds

Es geht nicht mehr nur darum, der Zeit zu folgen, sondern ihr gleich auch noch voraus zu sein. Meinecke zitiert Joseph Vogl, der einmal sagte: "Unsere Leitwissenschaft ist die Meteorologie, wir sind an Trends und am Geschäft der Vorhersagen orientiert. Und die Mode ist nicht nur ein Konfektions- und Ausstattungsressort. Vielmehr verlangt man von uns, dass wir uns heute (konformistisch oder extravagant) nach den Trends von morgen verhalten. ( ... ) Wir sind (irgendwie) in frenetische Existenzweisen geraten und finden nicht heraus." Auch da möchte man, wie Eva, gerne kommentierend fragen: warum?

Aber Meinecke, der die Anzieh-Moden ja selber seit Jahrzehnten mit seinen Holzfällerhemden unterläuft, versteht sich nicht unbedingt als Vermittler von Antworten und bleibendem Wissen. Er arbeitet immer mal wieder mit Fußnoten, aber erschöpfend will das nicht sein. Wenn er zu Bettina von Arnim etwa, Neugier weckend, Adda von Königsegg und ihr Buch "Die Frau, die die Romantik selber war. Bettinas Lebensroman" von 1938 zitiert, hätte man gern auch noch etwas zu Adda selbst und ihrem Roman "Die große Pflicht" (1941) erfahren, aber es ist ja schon schön, dass es beide tatsächlich gibt. Meinecke wirbelt eben nicht Staub auf, sondern bläst sanft über ihn hinweg. Und selber kann man sich über neu eröffnete Wege und Abwege freuen. Wie darüber, dass in "Selbst" immer wieder ein "Thomas" auftritt, der sogar teilweise emphatisch "eigene" Texte zu Körper und Seele zu sprechen scheint, die dann doch wieder von Jean-Luc Nancy kommen. Ein wahrhaftiges Bedürfnis vielleicht, aber ohne Verkleidung geht das hier nicht.

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