Roman: "Vorliebe":Das kosmische Ding-Dong

Ein Physiker ist ein Physiker ist ein Physiker. Ulrike Draesner allerdings versucht in in ihrem Roman "Vorliebe" Kopfgeburten ein Schicksal anzudichten - und scheitert mit ihrer Seelenphysik kolossal.

Thomas Steinfeld

Wenn die Vorbestimmung die Welt regieren soll, kann die Freiheit des Willens nur ein Schein sein. Und Vorbestimmung wird es wohl gewesen sein, was Ashley, den britischen Flugzeugingenieur, dazu bringt, sich in seinem Auto beim Rechtsabbiegen nicht umzuschauen, so dass die dahinradelnde Maria, die Gattin des Pfarrers, auf die Straße stürzt und sich eine heftige Gehirnerschütterung zuzieht.

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 "Langsam kroch seine Wärme über Federn und Laken auf sie zu. Auch das war Physik. Ein Stück klarer, ganz und gar irdischer Physik." So denken die Wissenschaftler in Ulrike Draesners neuen Roman.

(Foto: ddp)

Denn als Ashley, unterstützt von seiner Lebensgefährtin, der Astrophysikerin Harriet, sein Opfer im Krankenhaus besuchen will, steht dort der Pfarrersgatte, Peter, und in diesen war Harriet vor über zwanzig Jahren sehr verliebt gewesen - und bald hat Harriet einen Lebensgefährten und einen Liebhaber, während Maria, Klavierspielerin, dem Wein und dem Verkauf von Tupperware ergeben, Gefallen an Ashley findet.

Die Figur als Illustration des Dogmas

Es treten also auf: die Wissenschaft und die Technik, der Glaube, der Rausch und ein wenig Kunst. Die Welt der Zahlen und Gewissheiten und die Welt der Vermutungen, Erregungen und Gefühle. Zuerst werden sie vorgestellt, jede für sich, dann mischen sie sich: "Langsam kroch seine Wärme über Federn und Laken auf sie zu. Auch das war Physik. Ein Stück klarer, ganz und gar irdischer Physik." Jeder Typus, oder sagen wir besser: jede weltanschauliche Grundhaltung hat einen eigenen Namen und eine eigene Geschichte, ist blond und braunhäutig (Harriet), braun und hellhäutig (Maria), schwarzbraun gelockt (Peter) oder rotblond verwuschelt (Ashley).

Alle leben in Berlin, wobei die Stadt für die Physikerin und den Ingenieur nur eine Station auf einer kalt definierten beruflichen Laufbahn ist, für den Pfarrer und die Klavierspielerin hingegen Heim und Zuhause. Die Liebe aber, "oh weiches Wolfsfell, oh sanfte Wolfszunge", mischt die Paare, belebt die Figuren und vernichtet eine von ihnen.

Einen Thesenroman hat die Berliner Schriftstellerin Ulrike Draesner in ihrem Buch "Vorliebe" verfasst. Dagegen wäre nichts zu sagen, und Thesenromane sind in den vergangenen Jahren von vielen Autoren verfasst worden, von Michel Houellebecq etwa oder von Richard Powers, wenn denn in den Gestalten dieser kleinen Typentragödie nur genug Welt, nur hinreichend Wirklichkeit zu erkennen wäre. Es läuft hier aber jede Figur nur als Illustration des Dogmas herum, das sie illustrieren soll.

Weltanschauungen in Berufe verwandelt

Eine Naturwissenschaftlerin, von der Sonne beschienen, wird so beschrieben: "8,41 Minuten alte Strahlung, nah und heiß, traf den Kopf der Physikerin." Der Pfarrer: "Es hatte etwas Romantisches, so zu leben - und wenigstens zu versuchen zu glauben." Der Ingenieur: "Dünne Höhenwinde schnitten sich an Flügeln und strömten, berechnet spielend, verwirbelt nach unten und oben davon."

Die Allegorie, die symbolische Verkleidung einer Abstraktion zur menschenähnlichen Figur dient Ulrike Draesner zu einem ideologischen Zweck: Sie erlaubt ihr, Abstraktionen so auftreten zu lassen, als wären sie unwidersprechlich. Sie verwandelt Weltanschauungen in Berufe und diese in scheinbar lebendige Substanz.

Die Liebe als Urkraft

Das Dogma, das auf diese Weise in die Welt gesetzt wird, ist ebenso vermessen wie geistfeindlich. Es ist das Dogma aller Seifenopern und also ständischer Funktionalismus: Der Mensch wird definiert durch seine äußeren Verhältnisse und unter ihnen vor allem durch seinen Beruf: Ein Ölhändler ist ein Ölhändler bis in die Tiefe seiner Seele, ein Pfarrer ist ein Pfarrer "bis in die Unterwäsche", und ein Astrophysiker sieht die Welt als Gleichung mit der Unendlichkeit.

Der Hund und die Blechbüchse

Und weil eine Typologie noch keine Geschichte ergibt, die unerfüllte Sehnsucht aber das Eigentliche eines Menschen sein soll, fährt die Liebe dazwischen und knickt die Menschen, bis am Ende alles ist, wie es vor der Liebe war: "Alles wie immer: die sogenannten Liebe zerrte Menschen hinter sich her wie ein Hund Blechbüchsen, die man an seinen Schwanz gebunden hat. Schnell und schneller rennt das Tier, die Liebenden hängen fest, suchen die Liebe, doch die rennt ja voraus, und irgendwann wirft sie die Liebenden ab, dong, und immer erst den einen, und dann den anderen, ding."

Und keiner ist da und widerspricht, dass solche irdischen Erlösungsphantasien, so populär sie sein mögen, zum einen rücksichtslos sind, weil sie den Liebenden aus aller Verantwortung für sich und den anderen entlassen, zum anderen verlogen, weil sie missionieren, also die Liebe zur Urkraft stilisieren und sich mit nichts als dem Höchsten zufriedengeben wollen.

Vom Kitsch zusammengehalten

Ulrike Draesner betreibt einigen stilistischen Aufwand, um zu verbergen, dass ihr weltanschaulicher Konstruktivismus vom Kitsch zusammengehalten wird. Zu diesem Leim gehört eine Sprache, die durch die Schule des Expressionismus gegangen sein will, eine Sprache voller unvollständiger Sätze, Inversionen und Formulierungen wie dieser: "Übertrieben schwarz hingen die Fenster der umgebenden Häuser über den Gehwegen."

Dazu gehören ein paar Szenen aus dem Repertoire garantiert schmutziger kleiner Filme, ein bisschen Sadomasochismus also, ein bisschen Voyeurismus, aber auch ein auf den Hintern des Pfarrers tätowierter Dinosaurier. Dazu gehört aber schließlich auch ein großes Gefuchtel mit Vorbildern aus der Literatur- und Kunstgeschichte, von Edgar Allan Poes "Unendlichkeit", die eine "Seelen-Träumerei" sein soll, über Pieter Breughels "Fall des Ikarus", in Wirklichkeit ein "Sturz aus der Tiefe des Kosmos", bis hin zur Zwei-Paar-Konstruktion in den "Wahlverwandtschaften".

Denn geht es nicht auch in Goethes Roman um die Naturwissenschaften - die Chemie - und die Liebe? Nur bedingt, denn die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die Goethe für die "Wahlverwandtschaften" verwendete, waren zu seiner Zeit längst anerkannt obsoletes Wissen. Es ist ein Irrtum, der Eduard und seine Gefährten zusammenbringt. Zweihundert Jahre später glaubt Ulrike Draesner immer noch daran.

ULRIKE DRAESNER: Vorliebe. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 256 Seiten, 19,90 Euro.

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