Roman von Ulrich Tukur:Flucht aus dem Großvaterzimmer

Zukunft im Rückspiegel: Ulrich Tukurs Debütroman spielt in den Jahren 1943 und 2033.

Von Joseph Hanimann

Alte Fotos sind ein beliebtes Ausgangsmotiv geworden in der zeitgenössischen Romanliteratur. Der kontextlos stumme Blick längst verstorbener Personen ins Objektiv regt zu einer Vielzahl möglicher Geschichten an. In diesem Buch handelt es sich aber um einen ganz besonderen Fall. Als die Hauptfigur am zweiten Tag ihres Paris-Aufenthalts über die Seine-Quais schlendert und bei einem Bouquinisten ein altes Fotoalbum aus dem Kasten zieht, fährt sie schockhaft zusammen. "PG" steht in goldenen Lettern auf dem Einband. Das sind die Initialen des Namens dieses Mannes selbst, Paul Goullet, und er ist überzeugt: Dieser lässig an einem Geländer lehnende Unbekannte im eleganten Anzug mit Strohhut, wie man ihn zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende trug, ist er selbst. Dabei spielt die Romanhandlung schon tief im 21. Jahrhundert.

Der Schauspieler und Musiker Ulrich Tukur hat in seinem ersten Roman nach diversen anderen Büchern ein ausgeklügeltes Labyrinth aus Nazigeschichte, Psychothriller und Politfiktion angelegt. Der junge Deutsche Paul Goullet kommt auf der Flucht vor dem Chaos in seinem Land, wo ein baltisch-russischer Konflikt und ein Bürgerkrieg in der Türkei ihre Auswirkungen zeigen, nach Frankreich und wird dort durch eine Reihe merkwürdiger Begebenheiten in den Strudel der Zeitgeschichte hineingezogen. Warum treibt das vergilbte Bild im Fotoalbum von einem Mann, der fast ein Jahrhundert vor ihm gelebt hat, ihn in solche Bestürzung und in die Überzeugung, das sei er selbst?

Ulrich Tukur

Ulrich Tukur, geboren 1957, ist Schauspieler, enorm beliebt als Tatort-Kommissar, Musiker und jetzt auch Romancier.

(Foto: picture alliance / Arne Dedert/d)

Sofort steigen in ihm alte Erinnerungen auf. Jene etwa, wie er als Zehnjähriger im Elternhaus in Stuttgart sich ins geheimnisumwobene Großvaterzimmer schlich und dort neben Porträtfotos, Grafiken, Kunstdrucken auf eine Postkartenreproduktion von Gustave Courbets Bild "Der Ursprung der Welt" mit dem nackten Frauentorso stieß. Auch die Erinnerung an seinen spontanen Gedanken dabei, das sei seine tote Mutter, dann an seine plötzlich nass gewordene Hose, schließlich an die Ohrfeige des Vaters, der ihn im verbotenen Zimmer ertappte. All das hatte sich damals offenbar zu einem neurotischen Knoten um die Tabufigur des Großvaters verhärtet, eines ehemaligen Gestapochefs in Toulouse, der ihm im Mann auf dem Foto mit dem Leberfleck über der rechten Augenbraue wie ein Doppelgänger nun wieder begegnet.

Auf der Suche nach diesem anderen Selbst fährt Goullet durch ein trauriges und lebloses Frankreich, das von einem autoritären Regime regiert wird. In den Pyrenäen kommt er durch eine junge Frau in Kontakt mit einer Widerstandsorganisation, die verfolgten Personen bei der Flucht über die Grenze nach Spanien hilft und auf den Codenamen Lacroix hört. "Warum Lacroix?", fragt Goullet. Das sei ein Held der französischen Résistance im Zweiten Weltkrieg gewesen, von der Gestapo verhaftet, gefoltert und getötet, lautet die Antwort. Und dieser Mann sei auch für die Widerstandskämpfer neunzig Jahre später ein Vorbild geblieben. Sein Name ist einer der Fäden, welche die Parallelhandlung des Romans zwischen 1943 und 2033 miteinander verbinden. Geschichte gehe nicht vorüber, sondern kehre in Varianten immer wieder in einer Art stehender Gegenwart, suggeriert dieses Buch.

Im Nachwort nennt der Autor Tukur historische Figuren, die ihn inspiriert haben

Denn während den wiederholten Ohnmachtsanfällen Paul Goullets bei seinen Abenteuern rutscht die Handlung aus seiner Gegenwart von 2033 in jene von 1943. Dieses Hin und Her der beiden Ereignisstränge ergibt im Roman ein spannendes Panorama aus Déjà-vus. Wieder fiebern da Flüchtlinge in ihren Verstecken bange dem beschwerlichen Aufstieg über die Pyrenäen entgegen. Wie während des Zweiten Weltkriegs streichen Milizen durch die Gegend, wird überall willkürlich kontrolliert, verschwinden Leute in Lagern.

Roman von Ulrich Tukur: Ulrich Tukur: Der Ursprung der Welt. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019. 303 Seiten. 22 Euro.

Ulrich Tukur: Der Ursprung der Welt. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019. 303 Seiten. 22 Euro.

Nur sind die Karten irgendwie anders verteilt. Während der Abwesenheitsperioden des in Schlaf oder Ohnmacht gefallenen Paul Goullet übernimmt ein gewisser Prosper Genoux die Führung des Romangeschehens, ein perverser Résistancekämpfer, der als Fluchthelfer die von den Nazis Verfolgten bald über die Grenze, bald in die Fänge seiner Hab- und Lustgier führt und dessen Initialen PG ebenfalls mit denen auf dem Fotoalbum des Pariser Bouquinisten übereinstimmen. In einem kurzen Nachwort nennt der Autor Tukur die historischen Figuren, die ihn zu seiner Geschichte angeregt haben. Und im beschleunigten Rhythmus der Zeitsprünge rollt er bis zum fulminanten Ende die Etappen auf, mit denen Goullet von Stuttgart bis Perpignan das Großvaterzimmer und seine eigene Geschichte entstaubt.

Gut ausgedacht, möchte man sagen. Der Autor muss lang an der Kombinatorik seiner Story getüftelt haben und zeigt Talent beim Erzählen. Reizvoll steuert er, von ein paar albernen Science-Fiction-Szenen abgesehen, die vorausgreifende Romanhandlung an futuristischen Effekten vorbei durch eine Dauergegenwart, die im Alltag sich ziemlich gleich bleibt. Auch im Jahr 2033 werden Kohlensäcke in den Kellern entleert, gibt es Zeitungskioske auf der Straße. Und Frankreich ist vom Euro zum Franc zurückgekehrt. Bis hin zum Erzählstil wirkt dieses Buch seltsam retrospektiv, als läse man einen Zukunftsroman im Rückspiegel.

Als Ganzes ist es aber mit Motiven überladen. Im steten Bemühen des Autors, sie alle, vom Courbet-Gemälde, über Charles Trenets "Que reste-t-il...", bis zu den Vichy- und Nazierscheinungen, miteinander zu verbinden, erstickt die Figur Paul Goullets. Er ist mehr Symptom- und Symbolträger als handelnde Person mit eigenem Profil. Seine Liebe zur Widerstandskämpferin Hélène, die über einer Schlucht in den Pyrenäen tragisch endet, wirkt romantisch wie ein Nachhall aus Webers "Freischütz". Das ist der Preis für das Geschichtsbild hinter diesem Roman. Wo Geschichtsfäden nur ständig neu verknüpft werden, kann sich nichts Neues entfalten. Ulrich Tukurs Romanfigur ist eine unerlöste Seele, der wir gebannt, aber distanziert bis zuletzt folgen und dabei unschlüssig bleiben, ob man sich mit ihr über den Befreiungsschlag gegen die Welt des Großvaters freuen oder sorgen soll.

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