"Zweifellos", schreibt Lina Meruane, "bin ich in den Stunden bei den Sicherheitskräften palästinensischer gewesen als in den vergangenen vierzig Jahren meiner Existenz." Die Situation, in der ihr das bewusst wird, spielt auf dem Londoner Flughafen Heathrow, wo jene Sicherheitskräfte sie in einen Raum führen, der wie geschaffen wirkt für Terrorverdächtige. Wo sie sie filzen und erst dann an Bord gehen lassen. Im Flugzeug läuft auf dem Monitor ein Werbespot: "El Al. Das ist nicht nur eine Fluglinie. Das ist Israel."
Die vergangenen vierzig Jahre hat Meruane in Chile und New York verbracht sowie da und dort auf dem Globus. In Chile, wo die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt zu Hause ist, wurde sie 1970 geboren, in der Hauptstadt Santiago. Ihre Großeltern flohen einst mit osmanischen Pässen aus Palästina und schlugen sich in den Anden als Kaufleute durch. Hier galten sie als Türken. In der Provinzstadt, in der sie lebten, findet sich heute eine Straße, die nach dem Großvater benannt ist. Umgekehrt gibt es in Beit Jala, dem Herkunftsort im Westjordanland, eine Chile-Schule und einen Chile-Platz zum Dank für finanzielle Hilfen. Nie wollten Meruanes Eltern das Land ihrer Vorfahren kennenlernen. Erst in ihr reifte der Entschluss, nach Palästina zurückzukehren, wobei sie das Wort Rückkehr gleich wieder einkassiert, da es nicht zutrifft auf ein Land, in dem sie nie gewesen ist, und von dem sie wenig Ahnung hat. Weder spricht sie Arabisch noch gar Hebräisch.
In Palästina wohnt die Erzählerin bei Ankar, einem Schriftsteller und Freigeist
Schon seit dem Jahr 2000 lebt Lina Meruane in New York und unterrichtet an der New York University Literatur und kreatives Schreiben. 2018 erschien ihr Roman "Rot vor Augen" auf Deutsch. Wiederholt ist sie als Stipendiatin in Berlin gewesen, wo sie 2019 auch den zweiten Teil ihres literarischen Reisebuches geschrieben hat, "Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina". Nicht der zweite Teil aber, sondern der erste, bereits 2013 entstanden und später in Ausschnitten publiziert, erweist sich als starkes, noch dazu notwendiges Stück Literatur.
Erzählt wird von ihrem ersten Aufenthalt in Palästina, zu Gast bei Ankar, einem lateinamerikanischen Schriftsteller in Jaffa mit jüdischen Wurzeln. Vor der Hochzeit mit einer Palästinenserin trat er zum Islam über. Dieser Ankar ist ein herrlicher Freigeist, der an Israel über kurz oder lang irre werden könnte. In einer E-Mail teilt er Meruane mit: "Am Schreiben hindert mich, dass es in den letzten Jahren immer weniger Platz gibt für eine Meinung zwischen dem Wahnsinn der Hamas und dem Wahnsinn der israelischen Ultrarechten (wer sich vermittelnd äußert, wird unweigerlich in die eine extreme Ecke geschoben und aus der anderen angegriffen)." Frühmorgens steht Ankars Frau Zima zum Beten auf, um sich dann, denn auch sie ist Schriftstellerin, in den allgemeinen Schutzraum zu verziehen, den so gut wie jedes Gebäude in Israel besitzt. Zwar ohne Fenster, aber ruhig und abgeschirmt, gut geeignet zum Schreiben.
Einmal besucht Meruane eine Schule in Jerusalem, in der arabische und jüdische Kinder zweisprachig und möglichst ohne Scheuklappen erzogen werden. Untereinander aber reden die Kinder Hebräisch, weil den arabischen das Hebräische näher liegt als den jüdischen das Arabische. Unterstützt wird die Schule von einem gewissen Schlag von Eltern - "linke Israelis, Politiker, Journalisten von Haaretz, Intellektuelle". Überhaupt scheinen in diesen Schilderungen über Israel alle, die auf Verständigung aus sind, als links und verdächtig zu gelten, obwohl sie nur das Selbstverständlichste der Welt verlangen. Offenbar ist das Selbstverständlichste immer weniger zu haben. Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Israel als "ausschließlich" jüdischer Staat erklärt - bei zwanzig Prozent arabischen Bürgern.
Meruane erzählt vom drangsalierten Alltag, von Enteignungen, von geteilten Städten
Natürlich fährt Meruane auch nach Beit Jala, wobei sie es aus unerfindlichen Gründen nicht fertigbringt, das Haus ihres Großvaters aufzusuchen. Stattdessen sitzt sie bei ihrer Tante, die eigentlich eine entfernte Cousine ist, hört zu und wundert sich. Nicht nach und nach, sondern von vornherein nimmt sie die Perspektive einer Palästinenserin ein. Darin liegt die Notwendigkeit ihres Berichts. Denn zwar kennen und lesen wir unzählige israelische Autoren und bewundern sie für ihre Umsicht und Ausgewogenheit, aber all diese Werke können die palästinensische Perspektive nicht ersetzen.
Immerhin gibt es Ghassan Kanafani, dessen Geschichten man immer wieder lesen muss. In "Das Land der traurigen Orangen" erzählt er von der Vertreibung im Jahr 1948, kurz vor der Staatsgründung Israels. Der erste Satz wirkt unübertrefflich: "Als wir Jaffa in Richtung Akka verließen, war das an sich nichts Schlimmes." Ein Familienvater versucht sich, kaum dass er Libanon erreicht hat, das Leben zu nehmen. Es misslingt. Worauf ihm dämmert, dass er sich Palästina aus dem Kopf schlagen muss. Aber Kanafani ist schon lange tot; er starb 1972 in Beirut, getötet durch eine am Auto angebrachte Bombe.
Meruane erzählt vom drangsalierten Alltag, von Enteignungen, von geteilten Städten wie Hebron oder Jerusalem; sie erzählt von der allgegenwärtigen Überwachung mit modernsten Technologien; Gesichtserkennung ist keine Frage des Datenschutzes. Wer sich je näher mit Gaza befasst hat, wird Meruanes Rede von einer "Politik langsamen Erstickens" nicht für übertrieben halten. Trotzdem ist der erste Teil ihres Reisebuches nicht einfach, wie sie im zweiten Teil glauben macht, "dieses Buch gegen die Politik Israels". Da ist ihr Text viel klüger und komplexer, man könnte auch sagen, literarischer als die Einschätzung seiner Autorin. Leider hält der zweite Teil damit nicht Schritt.
Weil dort das Schriftstellerpaar Ankar und Zima fehlen, außerdem die familiären Verknüpfungen, verliert dieser Teil an Dichte und Substanz. Er ist eher ein Tagebuch, versehen mit Einsprengseln über JFK in Berlin oder Edward Snowden. Erst in der abschließenden Passage, die in Kairo spielt, kehrt die Kraft des ersten Teils ihres Buches wieder zurück. Ehe Lina Meruane ihre erste Reise antrat, schrieb ihr Ankar eine schöne, vielleicht auch vorsorglich beruhigende E-Mail: "Es gibt Musik, Essen, Sex, es gibt Ehen, Kinder, Scheidungen und alles Übrige auch. Das heißt, wir leben sehr gut."
Lina Meruane : Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berenberg Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 24 Euro.