Roman von Dave Eggers:Ausbruch aus einer modernen Welt

Wrter Dave Eggers, Penguin Books, London, September 9th 2009.

Dave Eggers, Jahrgang 1970, lebt mit Frau und zwei Kindern in der Nähe von San Francisco.

(Foto: Tom Pilston/VISUM)

Eine Frau flieht mit ihren Kindern in die Wildnis Alaskas. Dave Eggers überzeugt in seinem Roman "Bis an die Grenze" mit liebenswerten Protagonisten und nervt mit sozialromantischen Plattitüden.

Von Meredith Haaf

Zu den Erfahrungen eines Menschen in der Moderne gehört oft der Eindruck, Gefangener seiner Umstände zu sein. Das betrifft auch und gerade diejenigen, die glücklich genug sind, für ihre Umstände mehr oder weniger selbst Verantwortung zu tragen. Wer den Vorteil genießt, in einer der Bastionen des friedlichen Westens zu leben, fühlt sich bisweilen keiner Kraft so sehr ausgeliefert wie der des eigenen Wollens.

Einer dieser selbst gewählten Verstrickungszusammenhänge ist die Elternschaft, und zwar paradoxerweise auch und gerade dann, wenn Partner, Zeitpunkt und Anzahl der Kinder selbstbestimmt gewählt werden dürfen. Die Unterhalterin und Autorin Charlotte Roche hat in einem Interview einmal gesagt "Eine Mutter ist keine freie Frau." Sie hat damit ein gängiges Selbst- und Fremdbild von Müttern artikuliert, aber auch einen real existierenden Seelenzustand. Mütter sind ja nicht nur unfrei durch die Liebe und Sorge für die Kinder, sondern auch in den sehr weltlichen Verpflichtungen ihnen gegenüber, Einhaltung von Bettzeiten und Körperpflegeritualen, Ermöglichung von Sozialleben und Erfüllung der Schulpflicht, um nur einige wenige zu nennen.

Bequemlichkeit ist der Tod der Seele

Doch geht es nicht auch anders? Könnte eine Mutter sich aus sämtlichen Verpflichtungen lösen, ohne dabei einen Verrat an ihren Kindern zu begehen? Gibt es so etwas wie Freiheit in Verantwortung für jemanden, der oder die mehrere schutzbedürftige kleine Leute und sich selbst versorgen muss? Was liegt überhaupt auf der anderen Seite einer ausgeklügelten Realitätsflucht? Und wie gnädig ist die Welt zu denen, die etwas anderes von ihr fordern als das für sie persönlich Naheliegende?

Das sind die Fragen, die Dave Eggers in seinem neuen Roman "Bis an die Grenze" stellt. Seine Heldin, die Zahnärztin Josie, hat ihre Praxis aufgeben müssen, weil sie von einer geldgierigen und rachsüchtigen Patientin verklagt wurde. Sie leidet unter einer chronischen Belastungsstörung, die von einem komplizierten Elternhaus und einer Reihe falscher Entscheidungen herrührt. Josie hat zwei außergewöhnliche Kinder namens Paul und Ana und einen nichtsnutzigen Ex-Mann, namens Carl. Carl, "das Frettchen", ein unausgeglichener Millionenerbe, der lieber Occupy-Aktivist gewesen wäre und stattdessen gar nichts tut, hat eine neue Freundin und möchte sie den Kindern vorstellen.

Josie aber beschließt, sich zu verweigern: "Sie war fertig, weg. Sie hatte es bequem gehabt, und Bequemlichkeit ist der Tod der Seele (. . . ) Ein Mensch kann sich entscheiden, entweder Neues zu sehen, Berge, Wasserfälle, gefährliche Stürme und Meere und Vulkane, oder dieselben von Menschenhand gemachten Dinge in endlosen Spielarten zu sehen. Metall in dieser Form, dann in jener Form, Beton so gestaltet oder anders. Auch Menschen! Dieselben Emotionen recycelt, neu konfiguriert, scheiß drauf, sie war frei!" Sie fliegt mit ihren Kindern und einem Beutel voller Bargeld von Ohio nach Alaska, ein "Land aus Bergen und Licht".

Dort angekommen, verhält sie sich zunächst eher durchschnittlich: Sie mietet sich ein uraltes Wohnmobil, Modell "Chateau", kauft eine Menge Lebensmittel und trinkt, wenn sie am Waldrand parkt, einen Rotwein über den Durst, sobald die Kinder eingeschlafen sind.

Freiheit in Verantwortung

Es dauert nicht lange, da taucht ein Polizist auf, und Josie muss weiterfahren. Eine lange Reise beginnt: "Sie hatte sich die Freiheit gewünscht, einfach irgendwo anzuhalten und zu essen oder zu schlafen und auf unbestimmte Zeit zu bleiben." Dave Eggers erzählt in diesen Passagen die Geschichte einer Ablösung von inneren und äußeren Zivilisationsgewohnheiten. Zunächst stellt sich heraus, dass selbst die vergleichsweise bescheiden anmutenden nomadischen Freiheitsvorstellungen nicht ohne Mühe zu verwirklichen sind. Das liegt auch an Josies gebeuteltem Zustand und an der maßlosen Wut, die sämtliche Zivilisationserscheinungen in ihr auslösen: "Oh nein. Ein Laubbläser. Die Dummheit und die fehl geleiteten Hoffnungen der Menschheit lassen sich am einfachsten erleben, wenn man zwanzig Minuten zuschaut, wie ein Mensch einen Laubbläser trägt."

Natürlich muss Josie sich und ihre Kinder aus einer Umgebung entfernen, in der Laubbläser zum Einsatz kommen. Weiter geht es mit dem Wohnmobil, der "sterbenden Maschine", im Höllenlärm seiner schäbigen, schlecht befestigten Inneneinrichtung: "Die Geräusche ähnelten denen eines Erdbebens. Das Besteck rasselte wie die Ketten eines ruhelosen Gespenstes."

"Mut war der Anfang"

Es dauert gut 300 Seiten, bis Josie einen Platz für sich und ihre Kinder findet, an dem sie bleiben können. Denn immer wieder entpuppen sich vermeintliche Idyllen für die nervöse Josie als Fallen: Ein friedlicher Strand ist bei näherem Hinsehen eine einzige Müllkippe. Andauernd müssen auf der Suche nach der Freiheit Risiken eingegangen werden, Verkehrsunfälle, wütende, wohnwagenfahrende Norweger und vor allem die Waldbrände, die sich in ganz Alaska ausbreiten. Der Familie passieren dauernd Dinge, doch es geschieht ihr nichts wirklich. Seite um Seite wachsen die Kräfte von Josie und ihren Kindern, dem engelsgleichen achtjährigen Paul und seinem fünfjährigen Schwestern-Derwisch. Am Ende steht Josie ohne fahrbaren Untersatz oder Behausung da und auch mit sonst wenig, außer einer Erkenntnis: "Mut war der Anfang, furchtlos sein, weitergehen, trotz kleiner Entbehrungen nicht kehrtmachen. Mut war einfach eine Form des Weitergehens."

Und da ist er dann auch wieder - der bei all seinem unbestreitbaren Humor und Charme doch beklagenswert sozialpädagogisch literarisierende Eggers. So ist man etwa versucht zu zählen, wie oft das Wort "tapfer" in diesem Roman auftaucht, wenn der Autor seine Figuren loben will. Dass Eggers einen besonderen Draht zur Gegenwart hat, weiß man, aber leider hat er auch einen Hang zu prototypischen Figuren und sozialromantischen Plattitüden. Diese Schwäche war in seinem letzten Roman "The Circle" nicht zu übersehen, einem blutarmen Buch, das nicht so recht zu dem Eigentlichkeitsanspruch passte, der in Eggers' Menschenideal steckt.

Damit verglichen ist "Bis an die Grenze" deutlich erfreulicher, vielleicht weil Eggers mit Josie und ihren Kindern Protagonisten ersonnen hat, die seinem Ideal zumindest nahezukommen suchen. Sie nutzen das Internet nicht, unternehmen lieber Wanderungen durch Stürme, kümmern sich um fremde Tiere. Damit kann der Autor Eggers etwas anfangen.

Die Welt verändern sie nicht, doch sie lassen sich von der Welt verändern

Die Familie findet schließlich ein vorübergehendes Zuhause in einer abgelegenen Waldhütte, ein vorübergehendes Kleinfamilien-Eden, bis die Feuersbrunst es erreicht: "Jeder Tag hatte hundert unkomplizierte Stunden, und sie sahen wochenlang keine Menschenseele. (. . . ) Tagsüber war alles still bis auf den gelegentlichen Schrei eines Vogels, wie ein irrer Nachbar; nachts war die Luft erfüllt von Fröschen und Grillen und Kojoten. Paul und Ana schliefen tief, und Josie schwebte über ihnen, wie eine kühle Nachtwolke über Bergzügen, die sich den ganzen Tag in der Sonne gewärmt hatte."

Je weiter sich Josie und ihre Kinder von der Normalität entfernen, desto entspannter werden sie. Keine Rotweintiraden mehr, keine kindlichen Missetaten, keine Eskalationen mit Fremden. Diese Entspannung gereicht aber leider der Sprache nicht zum Vorteil, und die Sprache ist ohnehin die größte Schwachstelle des Schriftstellers Dave Eggers. Der Roman, in seiner ersten Hälfte noch enorm komisch, wird später fast dröge vor lauter Erfülltheit. Da enthält er dann Sätze wie diesen: "Die Kinder entwickelten sich wunderbar und vergaßen alle materiellen Belange."

Dass "Bis an die Grenze" dennoch ein berührendes und lesenswertes Buch ist, liegt an den Protagonisten, von denen Dave Eggers so liebevoll und detailverliebt erzählt, dass man es fast mütterlich nennen möchte. Die Welt verändern Josie und ihre Kinder nicht, aber immerhin treffen sie eine Wahl, wie sie sich selbst von der Welt verändern lassen.

Dave Eggers: Bis an die Grenze. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 426 Seiten, 23 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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