Roman über Elektro-Pioniere der DDR:Alles im Löt

Willkommen im Metaversum: Die erste Ost-Generation einer digitalen Prenzlauer-Berg-Boheme stellte ihre technische Heimausstattung noch in Eigenarbeit her. Marc Schweskas Debütroman widmet sich ihnen ungemein anziehend.

Christoph Schröder

Die Mutter sitzt im Wohnzimmer und spricht am Telefon über den bevorstehenden Ostseeurlaub. Da quäkt eine Stimme aus dem Kinderzimmer über die bis dahin geheime, selbstgebastelte Abhör- und Mikrofonanlage: "Ich finde Ungarn viel besser!" Auftritt Lemania Pircks, genannt Lem, geboren 1968 in Berlin (Ost), Bastler, Tüftler, Beleuchter und, wenn es einen solchen überhaupt gibt, Protagonist von Marc Schweskas Debütroman, der auf gewagte Weise ein Stück DDR-Geschichte erzählt, wie man es bislang weder so noch überhaupt gelesen haben dürfte.

DDR - Montage von Leiterplatten

Ein Buch von Bastlern, Tüftlern und Beleuchtern: Der Debütroman Marc Schweskas erzählt ein Stück DDR-Geschichte, wie man es bislang noch nicht gelesen hat.

(Foto: picture-alliance/ ZB)

Schweska, geboren 1967, ist gelernter Elektroniker; ein Beruf, in dem man, wie er in einem Gespräch anmerkte, in der ausgehenden sozialistischen Epoche die weitaus interessantesten Leute habe treffen können. Sein Buch "Zur letzten Instanz" trägt die Widmung "Allen Lötern", womit jene jungen Leute gemeint sind, die, wie Lem und seine Freunde, ihre technische Heimausstattung in Eigenarbeit herstellten - die erste Ost-Generation einer digitalen Prenzlauer-Berg-Boheme, die Mitte der 1980er Jahre ihr Equipment zunächst auf Schrottplätzen und Flohmärkten aufklaubte und anschließend zusammenschraubte und -lötete.

Man mag darüber streiten, ob dieser Text im Sinne einer strengen Definition ein Roman ist, in jedem Fall ist es eine in rasanter Schnitttechnik verfasste und vielstimmige Milieustudie aus einer fremden Welt; das Gegenprogramm zu einem wohlbekannten BRD-Lebenslauf.

Schweska verbindet fiktive autobiographische Aufzeichnungen Lems, essayistische Abschnitte, vermeintlich denunziatorisches (und unfreiwillig komisches) Material aus Berichten der Staatssicherheit und konventionelle erzählerische Passagen zu einem facettenreichen, wimmelnden Zeitbild.

Ein veritables Stück DDR-Alltag inklusive Subkulturklima wird da quasi nebenbei mittransportiert: die Lehr- und Jugendzeit mitsamt den üblichen Ritualen; die Geschichte einer Punkband mit dem Namen Maldoror, von den Behörden umgehend als subversive Gefahr eingestuft; die wechselhaften Beziehungen zu unterschiedlichen Mädchen, die allesamt Katrin heißen.

Schweska verfügt über Takt- und Temposicherheit und einen Tonfall aus Schnoddrigkeit und Ironie, mit dem er, buchstäblich en passant, ein anschauliches Bild des Prenzlauer Berges und Friedrichhains liefert; jener heute durchgentrifizierten Quartiere, die zu Ost-Berliner Zeiten die Heimat eines wilden, anarchischen Bewusstseins gewesen sein müssen. Der interessanteste und frappierendste Aspekt des Romans, aus dem er auch seine Form gewinnt, sind allerdings die Referenzen an die DDR-Wissenschaftsgeschichte der 1950er und 1960er Jahre. Seinen Namen verdankt Lem nicht nur einer Hommage des Autors an Stanislaw Lem, sondern im Roman selbst dem Werk einer Handaufzugsuhr; eines Präzisionsinstrumentes, das im Besitz der Familie ist. Eine Uhr des gleichen Fabrikats trug Neil Armstrong, als er ein Jahr nach Lems Geburt als erster Mensch den Mond betrat.

Lems Vater, von Haus aus Psychologe und Mathematiker, gehörte zu den Anhängern der Kybernetik, die in den Frühzeiten der sozialistischen Republik (und, auf der anderen Seite in den USA ebenso) von einem großen, von Ideologien befreiten Haus der Wissenschaft träumten, getragen von technischer Euphorie und dem Gedanken, dass die Maschine als ein neutrales Element keine Schuld auf sich laden könne - im Gegensatz zum Menschen, der in den Jahrzehnten zuvor seine Schuldfähigkeit eindrücklich unter Beweis gestellt hatte.

Sieg der Unzulänglichkeit

Aus Erzählungen von Lems Mutter, Party-Gesprächen und wiedergefundenen Aufzeichnungen setzt sich ein Bild des Utopisten Dr. Felix Pircks zusammen, der sich nach der großen Ernüchterung 1975 in den Westen absetzte. Erste Kollisionen mit dem Regime hatte es bereits 1969 gegeben, als Pircks während einer Vorlesung spontan den Amerikanern zur Mondlandung gratuliert hatte. Die Kybernetiker träumten von einer Überwindung der politischen Systeme zugunsten eines reinen Informations- und Austauschsystems. Eine Automatisierung von gesellschaftspolitischer Bedeutung: "Der kybernetische Datenraum", heißt es, "würde nicht ein schlichtes Abbild des Lebens sein, keine Halluzination, nicht dessen einfache Widerspiegelung, vielmehr seine Steigerung, ein Metaversum, welches das sattsam bekannte, unzulängliche Universum in eine gereinigte, verbesserte Ausgabe überführte."

Die Unzulänglichkeit, man weiß es, hat gesiegt, doch es muss eine kurze Zeit gegeben haben, da in West und Ost die Türen weit offen gestanden haben für eine anarchische Form gedanklicher Freiheit. Aus dieser heraus generiert sich Schweskas Roman. Das eigenwillige Aufschreibesystem, dem er entsprungen ist, macht ihn streckenweise anstrengend und kompliziert, aber auch ungemein anziehend und instruktiv. Schweska ist nicht nur ein Löter, er ist auch ein Erzähler.

MARC SCHWESKA: Zur letzten Instanz. Roman. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag. Frankfurt am Main 2011. 354 Seiten, 32 Euro.

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