Roman über die DDR:Kollektive Erinnerung

Drei Generationen einer Familie in Ostdeutschland erleben in der Zeit zwischen Mauerbau und Wiedervereinigung die Härten der Diktatur.

Von Roswitha Budeus-Budde

Es sollte ein großes zeitgeschichtliches Porträt der DDR werden, zwischen Mauerbau und Wiedervereinigung, dieser über drei Generationen laufende Familienroman "Grenzgänger" der niederländischen Autorin Aline Sax. Doch schon nach den ersten der 490 Seiten wird deutlich, dass hier politische Geschichte mit dem Blick auf das vermeintliche Leseverhalten Jugendlicher aufbereitet wurde. Die Sprache setzt auf Stimmung und Gefühle und nutzt dazu die Versatzstücke der kollektiven Erinnerung an Gewalt und Unterdrückung, die sich als Stereotype über die NS-Zeit, den Zweiten Weltkrieg und seit 30 Jahren über die DDR festgesetzt haben. Sie dienen der Unterhaltung und nicht der historischen Aufklärung. Die tragischen Ereignisse häufen sich, wie gefährliche Fluchtversuche, die dramatisch enden, offener und geheimer Widerstand, mit dem einzelne Familienmitglieder ins Visier der Stasi geraten oder verdächtigt werden, für sie zu arbeiten. Die natürlich immer in dunklen Wagen observiert und als Bewacher dazu Beamte mit stechendem Blick einsetzt, die dann bei den Gefängnisverhören durch grausame Juristen abgelöst werden. Passend dazu ist die Stimmung immer düster, auch im normalen Alltag scheint der Himmel verhangen, und das Leben in der DDR verkommt in dieser Darstellung zum Klischee. Gewürzt wird diese zeitgeschichtliche Kolportage mit typisch jugendlichen Szenen, wie schwierige Liebesgeschichten, bis nahe am Inzest, Eifersucht und Kämpfe mit Eltern und Autoritäten, die auch zu geheimem politischen Widerstand führen. In jedem der drei Teile wird die Geschichte durch ein Familienmitglied selbst erzählt. Es beginnt mit Julian, 1961, der den Mauerbau und eine Fluchtgeschichte erlebt, dramatisiert durch die Figur eines schurkischen ehemaligen Schulkameraden, der ihn als Grenzsoldat bedroht und erpresst und der in einem Gerangel zu Tode kommt. Der zweite Teil führt 1977 ins Hochschulmilieu. Marthe und Florian, Nichte und Neffe von Julian, enden im Gefängnis, weil sie, beeinflusst durch den politischen Widerstand der Geschwister Scholl, ebenfalls Flugblätter verteilen und gefasst werden. Dieser Erzählstrang beutet die Aura der Weißen Rose aus und ist durch kein Zeitzeugnisse belegt. Teil drei erzählt von Sybille, einer Enkelin, zeigt die letzten Wochen des Regimes, die Freitagsdemonstrationen, die Flucht in die ungarische Botschaft, den Mauerfall und gleichzeitig den Zerfall der Familie. Zeitgeschichte als Politthriller. (ab 13 Jahre)

Aline Sax: Grenzgänger. Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart. Urachhaus, Stuttgart 2019. 491 Seiten, 19 Euro.

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