Roman "14" über den Ersten Weltkrieg:So banal fangen Kriege an

Erster Weltkrieg Frankreich Soldat mit Schädel

Ein französischer Soldat mit einem Schädel an der Westfront. Das Bild wurde von der International Contemporary Documentation Library (BDIC) veröffentlicht.

(Foto: AFP)

Unheimlich menschlich: Den Weg zum großen Töten schildert Jean Echenoz als abstruse Verstrickung von Offizierslogik und Wirtschaftskalkül, von kleinen Alltagssorgen und großem Überlebensdrang. Unter allen aktuellen Schilderungen zum Ersten Weltkrieg ist der Roman einzigartig.

Von Joseph Hanimann

Unter den zahlreichen Schilderungen dieses Jahres zum Ersten Weltkrieg steht dieses Bändchen einzigartig da. Die geknickten Menschenleben und gestürzten Reiche, die Schützengräben und der Schlamm, Langeweile und Panik, das Voranstürmen und die standesrechtliche Erschießung - alle zu erwartenden Einzelheiten sind vollständig da. Und doch ist alles ganz anders. Es ist, als wüsste in diesem Roman auch der Erzähler nicht, wie die Sache letztendlich ausging.

Wir ziehen auf Augenhöhe einiger Kleinstadtbewohner aus der Vendée mit in ein Abenteuer, das erfrischend mit der provinziellen Lebensroutine bricht und zunächst eher lustig aussieht. Da ist der Buchhalter Anthime, der Metzgergeselle Padioleau, der Fleischhauer Bossis, der Sattler Arcenel.

Sie alle nehmen die Dinge so, wie sie kommen: nicht als weltgeschichtliches Großereignis, sondern als eine Folge alltäglicher Erfahrungen zwischen Neugier, Soldatenspaß, Strapazen, jäher Panik, Dünnschiss, Sehnsucht nach Hause, nach "guten", weil von der Front weg ins Lazarett führenden Verletzungen.

Für den französischen Schriftsteller Jean Echenoz, der 1947 in Orange in der Provence geboren wurde und in Paris lebt, sind die historischen Ereignisse nicht Gegenstand für ausmalende Nacherzählung mit geschickt arrangierten Schatteneffekten. Sie sind Rohstoff für das Experiment eines erzählenden Nachempfindens aus dem jeweiligen Moment heraus. So war der Autor auch schon in seinen letzten Romanen mit dem Komponisten Maurice Ravel, dem Marathonläufer Emil Zátopek oder dem Erfinder Nikola Tesla verfahren.

Die Romanfiguren werden dabei ins möglichst exakt nachgemischte Säurebad ihrer Epoche getaucht und in ihren Verformungen und Verfärbungen beobachtet, ohne Einfühlungswärme, nachträgliche Heroisierung, zeitgeschichtlichen Kulissenzauber oder dramatisierende Überhöhung. Die Darstellung bleibt sachlich, kühl, informativ.

Der scharfe Detailblick des Autors Echenoz zielt auf die exakte Benennung aller Dinge, mit denen die Figuren zu tun haben, wie etwa der Fotoapparat der Marke "Rêve Idéal" von der Firma Girard & Boitte, den einer der Protagonisten ständig um den Hals trägt, um auf dem Weg zur Front Landschaften und Menschen zu knipsen, oder wie das solide Fahrrad aus der Fabrikation Euntes, "von Kirchenmännern für Kirchenmänner gebaut", auf dem der Buchhalter Anthime am 1. August 1914, einem Samstag, bei vorzüglichem Wetter nach dem Mittagessen zu einer Radtour aufbricht.

Kaum hat er leicht schwitzend die Kuppe eines der bescheidenen Vendée-Hügel erreicht, schlägt ihm ein jäh aufgekommener Wind entgegen, dass er absteigen muss. Im Getöse der Böen fällt sein über die Landschaft schweifendes Auge jedoch auf ein seltsames Schauspiel.

In allen Kirchtürmen unten auf der Ebene sind abwechselnd dunkel und hell aufscheinende Formen zu sehen, die beim Abflauen des Windes sich akustisch als sturmläutende Glocken erweisen. Dem Radfahrer Anthime ist sofort klar: Das kann nur die Mobilmachung bedeuten, damit war zu rechnen - aber ausgerechnet an diesem Samstag?

So banal fangen auch Kriege an. Weltgeschichte und Privatangelegenheiten passen im jeweiligen Zufallsgefüge aus sichtbaren, hörbaren und spürbaren Begleitumständen nie ganz zusammen, als hätte der Weltgeist sich im Terminkalender vertan. Auch das, was während der vier folgenden Jahre dann kommt, holt der Roman in die kleinteilige Unüberschaubarkeit des Lebens von jeweils heute auf morgen herab, ohne dabei den Ernst der Ereignisse in Anekdoten zerflattern zu lassen.

Anthimes Kamerad Arcenel wird beim Fassen der Uniform anderntags in der Kaserne von seinen Hämorrhoiden geplagt, weil er am Vorabend vor Aufregung zu viel gefeiert hat. Erklingt dann an der Front aber schließlich das Kommando, aus dem Unterstand ins feindliche Feuer zu stürmen, schauen die Kameraden einander zunächst unschlüssig an, einer nestelt verlegen an seinem Tornisterriemen, ein anderer schnäuzt ins Taschentuch. Schicksalsbewusstsein, Courage und Hilflosigkeit laufen im Krieg Seite an Seite.

So ist von diesen Männern auch kein Anflug von Aufmucken oder politisch motivierter Desertion zu erwarten. Der Krieg muss, so unerfreulich er ist, zu Ende geführt werden. Als einzig möglicher Fluchtweg von der Front bleibt die Selbstverstümmelung, indem man sich etwa die Hand durchschießt. Doch kann das leicht als Defätismus ausgelegt werden.

Anthime hat das Glück, durch ein Geschoss seinen rechten Arm zu verlieren - eine schöne, saubere Wunde, zu der ihm nach der Amputation im Feldlazarett von allen Seiten gratuliert wird. "So ist dir wenigstens Verdun erspart geblieben", sagt später seine Freundin Blanche, neben der er mit hochgestecktem rechten Westenärmel durch die matte Junisonne spaziert. Sein Kamerad Arcenel fand einen anderen Ausweg aus dem Krieg, indem er sich bei einem einsamen Spaziergang an der Front verlief und wegen Desertion exekutiert wurde.

Echenoz' Darstellung des Krieges als abstruse Verstrickung aus Offizierslogik, Politik, Wirtschaftskalkül, Schicksalsergebenheit, kleinen Alltagssorgen und großem Überlebensdrang verzichtet auf Schreckensvision, Antikriegsrhetorik, Betroffenheitsemphase oder nachträgliche Erklärungsmanie. Sie zeigt die Ereignisse so, wie sie begriffslos ins Leben der Akteure rollten, und lässt auch die Nebenakteure aus der Tierwelt nicht aus.

Nie haben wir eine solche Beschreibung der ins Geschehen hereingezogenen Tiere gelesen, der herrenlos in die Wildnis zurückfindenden Enten, Hühner und Kaninchen, der von den Kompanien bei lebendigem Leib auf der Wiese filetierten Ochsen, der gemeinsam mit den Menschen im Feuer verstümmelten Pferde, der als Erzfeinde allgegenwärtigen Ratten und Läuse.

Statt als das schiere Entsetzen erscheint der Krieg hier auf unheimliche Weise menschlich. Das ist nur möglich dank des distanzierten, unterkühlt heiteren und zugleich elegant melancholischen Tons von Jean Echenoz, den Hinrich Schmidt-Henkel mit Phantasie und Geschick auch im Deutschen zu treffen verstand.

Die Jahrhundertdistanz gibt uns vielleicht erstmals die nötige Reife, so unvoreingenommen und zugleich bange noch einmal mit ins Verderben zu marschieren.

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