Süddeutsche Zeitung

Roman "Selbstbild mit russischem Klavier":Hat hier jemand Kitsch gesagt?

Lesezeit: 4 min

Von Juliane Liebert

Warum hat Beethoven kein Cellokonzert geschrieben? Weil er das Instrument zu sehr liebte natürlich. Auf diese Antwort kann nur ein Russe kommen, würde Suvorin sagen, ein alternder russischer Pianist, Kaffeehausbesucher, Alkoholliebhaber, Wassertrinker und beinahe so etwas wie der Protagonist von Wolf Wondratscheks "Selbstbild mit russischem Klavier".

Beinahe, weil es so etwas wie einen Protagonisten in dem als "Roman" bezeichneten Buch nicht wirklich gibt. Vordergründig unterhält sich ein Ich-Erzähler, meist standesgemäß in einem Wiener Kaffeehaus, mit Suvorin, der nach dem Unfalltod seiner Frau seine Karriere beendet hat. Er lebt zurückgezogen in einer zunehmend chaotischen Wohnung. Die Erzählung pendelt zwischen Plauderei und Bewusstseinsstrom. Manchmal ist sie szenisch, dann gerät sie zum Monolog, zuweilen wird sie fahrig, sprunghaft, produziert nur noch enigmatische Sentenzen und reiht Gedankenfetzen und Erinnerungsscherben aneinander. Die ergeben zwar irgendein Bild, aber schon während man die Seite umblättert, verliert es sich wieder im Nebel. Phasenweise weiß man nicht mehr, wer eigentlich spricht. Erzähler und Hauptfigur überlagern sich, um wenige Absätze später wieder klar voneinander getrennt zu sein.

Erzähler und Figur verschwimmen

Insofern ist der Titel angemessen vieldeutig. Wessen Selbstbild? Wondratscheks? Des Erzählers? Des Pianisten? Letzterer treibt sein Versteckspiel schon im Titel: Seinen Platz hat sein Instrument, das Klavier eingenommen, er selbst genießt vermutlich augenzwinkernd die Freiräume zwischen den Wörtern. Eine wirkliche Entwicklung findet in dem Roman nicht statt, auch wenn einiges aus Suvorins Leben berichtet wird.

Dafür wird wohldosiert verabreicht, was der Literaturbetrieb von seinem Lieblingsaußenseiter Wondratschek erwartet: empfindsame, melancholische Machos, kettenrauchende Loner, Künstleridiosynkrasien, Lausbubensehnsucht nach Schönheit. Sogar Marlon Brando wird erwähnt.

Dazu wird phrasenhaft über Musik geschwätzt: Bach spielen zur Hygiene, Sviatoslav Richters berüchtigte langsame Tempi. Es ist nicht leicht, über Musik zu sprechen, erst recht nicht über ihre intensivsten, abgründigsten Momente, ohne sich in ausgelutschten Metaphern zu verlieren oder ins Anekdotische abzugleiten. Aber wir haben es hier eben mit Literatur zu tun, nicht mit einer Dokumentation über einen russischen Konzertpianisten. Sie muss durch die Sprache beglaubigen, wovon sie spricht. Sie kann nicht das Klavier aufklappen und spielen. In Wörtern zu klingen ist ihre einzige Chance zu musizieren.

Andererseits: Ist diese Neigung zum zärtlichen Gelaber nicht integraler Bestandteil dessen, was Wondratscheks Texte erst anziehend macht? Lebt seine Literatur nicht davon, dass auch die Plattitüde bei ihm behütet wird, weil sie Ausdruck einer aufrichtigen Suche ist? Seit einem halben Jahrhundert ist Wondratschek nun der einsame Wolf (oh ja!) der deutschsprachigen Literatur. Nicht zuletzt sein hybrides Image zwischen Vulgarität und Hochkultur hält seinen Marktwert auf ansehnlichem Niveau. Gut bezahlt werden wollte er immer. Wenn man sich als Schönheitssehnsüchtiger schon prostituieren muss, um über die Runden zu kommen, dann wenigstens nicht zu billig. Als ihm die Angebote seines Verlags zu schlecht waren, hat er daher seinen letzten Roman exklusiv an einen Mäzen verkauft; bei einer Ausstellung in Berlin waren unlängst Gedichtunikate für rund 10 000 Euro das Stück zu haben.

Recht hat der Mann! Lieber schmutziger Sex mit dem Kapital als lebenslange Vernunftehe mit der staatlichen Kulturförderung. In Zeiten, da Schreibschulen fürs Business gerüstete Jungautor*innen am Fließband produzieren, ist es in jedem Fall tröstlich zu sehen, dass man auch vom Rande her dabei sein kann, abseits des üblichen Branchenringelpiezes sein Auskommen findet. Und sei es als Mythos (was ja nun wirklich ein Knochenjob ist).

Für besagte Ausstellung wurde einst auch eine Art Trailer produziert, den man sich im Internet anschauen kann. Darin läuft der alternde Wondratschek durch ein schwarz-weißes, pittoreskes Wien und erzählt, er stelle sich vor, wie nach seinem Tod etwas aufgefunden würde, das ihn in einem völlig neuen Licht zeigte, das die Öffentlichkeit zwänge, ihr Wondratschek-Bild zu revidieren. Eine entwaffnend kindliche, freundlich narzisstische Fantasie.

Von Kitsch kann keine Rede sein

Und natürlich findet sich etwas davon auch in der Romanfigur Suvorin, der immer wieder mit dem Bild hadert, das sich das Publikum von ihm und seiner Kunst macht. Applaus verabscheut er, jedenfalls das besinnungslose Bravogerufe und Jubelgrölen. So weit, so künstlerkitschig. Aber nach dem Tod seiner Frau arbeitet er zur Selbsttherapie als Gehilfe in einer orthodoxen Kirche. Die einfache, ritualisierte Tätigkeit beruhigt und stabilisiert ihn. "Manchmal, nachdem er seine Arbeit verrichtet hatte, war die Kirche von Gesang erfüllt gewesen, mit den hellen und dunklen Stimmen des Chors, der hier seine Proben hielt. Sonst war es still, wie es auch nach den Aufführungen in der von seinen Landsleuten gefüllten Kirche still war. Es rührte sich keine Hand." Solche Bögen, solche unerwarteten motivischen Verknüpfungen erwischen einen dann doch. Nein, wer hier mit dem Kitschvorwurf hantiert, beginnt den Tag mit einer Schusswunde im eigenen Knie.

Wien ist eine Stadt der Friedhöfe. Also sind die Gespenster nicht weit, lebende wie tote. Und die Liebe liegt in der Leerstelle, in Beethovens Cellokonzert. Selbstverständlich stammt die Theorie von Suvorin. Er äußert sie im Roman gegenüber Heinrich Schiff, dem 2016 verstorbenen großen Cellisten, der in seinen letzten Jahren aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme keine Konzerte mehr geben konnte. Ein fiktiver Künstler spielt Billard mit einem Kollegen, der wirklich gelebt hat. Beide sind sie beschädigt.

Wondratschek hat über Schiff bereits in "Mara" geschrieben, seinem Buch über das gleichnamige Stradivari-Cello. In "Selbstbild mit russischem Klavier" lässt er ihn als Schmerzensmann auftreten. Herzensgut, rau im Umgang. Suvorins romantischen Spekulationen über Beethoven kann er wenig abgewinnen. Dennoch sind die Treffen der beiden von meditativer Harmonie. Manchmal werden Pralinen kredenzt. Der Cellist lässt die Kugeln klicken. Für einen Moment denkt man an John Wayne in "The Shootist".

Schiff war der Heldentod auf offener Bühne nicht vergönnt. Aber auch John Waynes Film-Charakter stirbt nicht glamourös. Erst recht nicht der damals bereits todkranke Schauspieler. Es ist die Würde des gebrochenen, untröstlichen Menschen, die berührt. Wer jemals Salingers "Fänger im Roggen" gelesen hat, wird ein Wort nie vergessen, das eigentlich nur unzulänglich als "falsch" übersetzt werden kann: phony. Wondratscheks Roman ist sicher vieles, phony ist er - durch all seine Klischees hindurch - nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4105028
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.08.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.