Roman "Schlump" über Ersten Weltkrieg:Kuss des Kriegers

Britische Soldaten

Britische Soldaten marschieren 1915 zur Front am Frenzenberg bei Ypern, Belgien.

(Foto: Ernest Brooks/National Library of Scotland/dpa)

Hans Herbert Grimms Schelmenroman "Schlump", aus der Perspektive eines jungen deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg erzählt, ist eine beglückende Wiederentdeckung. Er liefert ein umfassendes deutsch-französisches Stimmungsbild, wie man es sonst noch nirgendwo gelesen hat.

Von Christopher Schmidt

Die Einzigen, die ihn nicht vergessen hatten, waren die Nazis. "Schlump" gehörte nach der Machtergreifung zu den verbotenen Büchern. So wurde ein Roman aus der Literaturgeschichte gelöscht, an den sich schon damals kaum jemand erinnerte. Sein Autor, der Altenburger Lehrer Hans Herbert Grimm, der das Buch 1928 aus Angst um seine bürgerliche Stellung unter Pseudonym veröffentlicht hatte, mauerte das Original zu Hause ein, um sich und seine Familie zu schützen.

Trotz des Werbeaufwands, den Grimms Verleger Kurt Wolff bei Erscheinen betrieben hatte, war das Werk weitgehend unbeachtet geblieben. Ein anderer Roman, Remarques "Im Westen nichts Neues", absorbierte die öffentliche Aufmerksamkeit. Zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs war das Publikum noch nicht reif für Grimms Schelmenstück über "Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt Schlump. Von ihm selbst erzählt", wie das Buch in Anspielung auf Grimmelshausen im Untertitel heißt.

Zivile Aspekte des Ersten Weltkriegs

Erst der FAS-Literaturkritiker Volker Weidermann hat "Schlump" wiederentdeckt, einen Roman, der zu den interessantesten Büchern über den Ersten Weltkrieg gehört - gerade weil er den Blick nicht auf die Feldstecher-Perspektive des einfachen Schützen im Stellungskrieg an der Westfront verengt, sondern die zivilen Aspekte jener Jahre ausleuchtet. Damit liefert Grimms Picaro ein umfassendes deutsch-französisches Stimmungsbild, wie man es sonst noch nirgendwo gelesen hat.

Als Freiwilliger zieht der 17-jährige Emil Schulz im August 1915 in einen Krieg, der zu diesem Zeitpunkt längst hätte vorbei sein sollen. Doch Schlump hat Glück. Weil er etwas Französisch kann, landet er zunächst als Kommandant eines besetzten Dorfes in der Etappe. Dort hat er es eher mit Problemen wie aus Louis Pergauds "Krieg der Knöpfe" (1912) zu tun. Ein Junge steckt mit dem Kopf in einem Nachttopf fest, den er sich beim Ritterspiel als Helm aufgesetzt hat.

Das gesamte Dorf zieht wie eine Prozession, angeführt von Schlump, zum Klempner, der das Kind mit einer Blechschere von dem befreit, was Grimm als "eiserne Maske" bezeichnet - eine Verneigung vor Alexandre Dumas. Ein ganzes Bataillon deutscher Soldaten ist mittlerweile ausgerückt, angeführt von einem Leutnant mit gezücktem Degen. Das Ganze endet friedlich, und Schlump, "zog im Triumph mit seinen Untertanen wieder nach Loffrande zurück".

"Parole Massengrab"

Als der freundliche Besatzer Schlump schließlich doch an die Front abkommandiert wird, trennen sich die Dörfler unter Tränen von ihrem geliebten Boche. Er selbst empfindet seine Versetzung als Schmach, schließlich heißt es unter den Soldaten, dass nur die Dummen zur Infanterie kommen. Man sehnt sich nach einem "Heimatschuss", "Parole Massengrab" sagt man im Jargon der Truppe, und Kriegsfreiwillige werden "Kriegsmutwillige" genannt. Als Schlump zum ersten Mal Posten steht, vollbringt er gleich eine antikriegerische Heldentat.

Da er seinen Posten nicht verlassen darf, erleichtert er sich im Schützengraben. Am Morgen tritt ein Leutnant mitten hinein in das "Denkmal", das Schlump hinterlassen hat. Es ist Grimms ganz persönliches Kriegerdenkmal, sein Statement zu falschem Heldenpathos und Militarismus. Und auch wenn er das Inferno zuweilen mit allzu treuherzigen Vokabeln beschreibt - die splitternden Granaten wie tausend Katzen "fauchen" oder die frierenden Troupiers traulich Brennholz "mausen" lässt, so unterschlägt er die Gräuel keineswegs.

Ikonische Irrsinns-Szenen

Nahezu alle ikonisch gewordenen Irrsinns-Szenen der Literatur über den Ersten Weltkrieg tauchen auch hier auf: die Bauchschüsse und zerfetzten Gesichter, eine Leiche, auf deren abgerissene Schädeldecke "der Tod das Gehirn fein sauber draufgelegt" hat wie auf einen Teller. Da gibt es den Soldaten, der zwischen den Linien im Stacheldraht hängt, während die Kameraden seine "Mutter"-Rufe hören und ihn doch nur tot bergen können.

Den Deutschen, der einen volltrunkenen Engländer mit in den Tod reißt, indem er ihn umklammert und eine Handgranate mit den Zähnen zündet, eine fast sexuelle Vereinigung. Oder die Leuchtrakete, die im Bauch eines anderen explodiert und einfach nicht aufhört zu brennen. Und die junge Schwangere, die durch eine Granate tödlich entbunden wird. "Schlump war schrecklich enttäuscht von diesem Krieg", heißt es mit ätzender Ironie.

Lockere Moral

Auch Schlump wird zweimal verwundet. Im Hospital, wo sein verletzter Arm wieder beweglich gemacht wird von mechanischen Streckvorrichtungen, sieht er im Treppenhaus eine Pflegekraft, die sich ein abgesägtes Bein über die Schulter geworfen hat. Surrealismus des Alltags. Und doch handelt Grimm die Hölle, durch die sein moderner Simplicissimus geht, eher knapp ab, größeren Raum gibt er dem Fraternisieren. Der Männermangel lockert hüben wie drüben die Moral. Überall, in Frankreich ebenso wie beim Heimaturlaub kommt der erotische Kriegsgewinnler Schlump auf seine Kosten

Grimms Roman, in den viele eigenständige Erzählungen eingeschaltet sind, ist auch ein neusachliches "Decamerone '14/18". Die anrührendste Episode handelt von einem französischen Mädchen, dem Schlump hilft, Briefe an den Liebsten zu formulieren, bis sich herausstellt, dass Schlump selbst der heimliche Adressat ist. Grimm erzählt die heitere Geschichte von der doppelten Buchführung einer handfesten Ehefrau, deren Mann sich wundert, dass sie schon viereinhalb Monate nach der Hochzeit ein Kind zur Welt bringt, worauf sie erwidert, er solle sich nichts einreden lassen. Sie seien doch Mann und Frau, also viereinhalb Monate für jeden.

Und die traurige von dem Trompeter, dessen Braut genau dieselbe Geschichte wie mit ihm danach mit einem anderen wiederholt hat, so dass er daheim genauso austauschbar ist wie an der Front. Die Normalität unehelicher Kriegskinder bringt Grimm so auf den amüsanten Punkt: Als Schlump erfährt, dass die "süße, kleine Nelly" einen kleinen Schlump erwartet, schreibt sie ihm, er solle sich keine Sorge machen. "Die Mutter sei nicht böse, sie erwarte selbst einen kleinen Zahlmeister. Und der Vater hätte in Metz auch einen kleinen Schleppsäbel bestellt (. . . ). Es würde also eine ordentliche Kindtaufe werden."

Unkriegerischer Doku-Roman

Grimm hat sich für seinen so unkriegerischen Doku-Roman den Märchenton seiner Namensvettern, der Brüder Grimm ausgeliehen, einfach und doch sehr kunstvoll. Bisweilen hört man auch ein Echo von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten zwischen den Zeilen. Grimm schildert einen Krieg, in dem ebenso viel gelebt wie gestorben wird, in dem es Liebe gibt, aber niemals Hass. Einen Krieg ohne Feindschaft.

Grausig-komisch mutet es an, wenn ein deutscher und ein kriegsgefangener französischer Soldat in anmutigen Tierfabeln über die Unterscheide ihrer beiden Länder philosophieren, während ihre Kameraden draußen sich gegenseitig aufs Grausamste abschlachten. Nicht zufällig heißt die Braut, die daheim auf Schlump wartet, Johanna. In seiner Phantasie verschmilzt sie mit der heiligen Johanna, deren Bild er in einer französischen Kirche gesehen hat. So verdichtet Grimm Völkerverständigung zum literarischen Motiv.

Drôle de guerre - seltsamer Krieg nannten die Franzosen den Krieg gegen die Deutschen, der erst noch kommen sollte. Und auch diesen hat Hans Herbert Grimm als Soldat mitgemacht. Um sich zu tarnen, war er in die NSDAP eingetreten und wurde später in der DDR mit Berufsverbot belegt. 1950 hat er sich in seinem Haus das Leben genommen. Geblieben ist davon ein Riss in der Wand, wie Volker Weidermann im Nachwort schreibt. Der Riss in der Geschichte der Weltkriegsliteratur aber, er ist mit der Neuauflage dieses unendlich humanen Romans geschlossen.

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