Roman "Nicht ganz schlechte Menschen":Literarische Sturzgeburt

Helmut Krausser hat einen swingenden Historienschinken mit robusten Figuren geschaffen. Der Roman ist weder neu noch groß, dafür aber unterhaltsam. Der geschichtliche Hintergrund wird allerdings immer wieder von lieblosen Erläuterungen durchbrochen.

Ulrich Rüdenauer

Helmut Kraussers neuer Roman "Nicht ganz schlechte Menschen" beginnt, wie ein großer Roman beginnen könnte. Mit einem erzählerischen Paukenschlag. "Am 1. August 1914, dem Tag der Mobilmachung des deutschen Reiches, als der Kaiser keine Parteien mehr kannte und der Jubel in den Straßen keine Grenzen, wurden, motiviert vor allem durch patriotisch-erhabene Gefühlswallungen - auch weniger hochgestochene Beweggründe spielten eine gewisse Rolle - in Potsdam zwei Brüder gezeugt, die am 26. Februar des darauffolgenden Jahres im Abstand weniger Minuten den Leib der erschöpften Mutter verließen."

Die literarische Sturzgeburt beschert uns eineiige Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten - dionysisch der eine, apollinisch der andere, libertinär und dem Sinnlichen zugeneigt Max, verklemmt und politisch dogmatisch Karl. Man könnte auch sagen: Nietzsche und Marx haben von den beiden Besitz ergriffen. Das 20. Jahrhundert der Ideologien bringt Krausser in Max und Karl Loewe auf den Punkt, und die Brüder haben gewiss nicht zufällig in Max Stirner und Karl Marx ihre Namenspaten und im Löwen ihr Wappentier. Richtig subtil ist das nicht unbedingt immer, aber draufgängerisch.

Krausser, der mit knapp fünfzig Jahren schon auf ein imposantes und durchaus disparates Werk zurückblicken kann, möchte mit seinem Historienschinken so richtig in die Vollen gehen. Mehr Technicolor-Breitwand-Kino als puristischer Schwarzweiß-Arthaus-Film. Man ahnt dann schon, was auf der 600-Seiten-Strecke bleibt: Seine Figuren sind von der gröberen Art, und auch der historische Hintergrund der Zwanziger- und Dreißigerjahre wird formal eher wie beim Telekolleg Geschichte inszeniert. Die Handlung ist immer wieder unterbrochen von etwas lieblos in den Text eingesetzten Erläuterungen - das wirkt ein bisschen wie im Oberstufengeschichtsbuch, wo die wichtigsten Fakten noch mal in einem Extra-Kasten zusammengefasst sind. Es ist auch nicht so, dass Krausser seinen Lesern allzu tiefgreifende historische Kenntnis zutraut. "Als 'rechts' galten übrigens Stahlhelm und Deutschnationale, als 'links' SPD und KPD, als mittig das katholische Zentrum und ein paar unbedeutende liberale Parteien. Die NSDAP, offiziell extrem-rechts eingeordnet, war dabei, objektiv betrachtet, irgendetwas anderes, mit dem konventionellen Parteien-Spektrum nicht zu fassen."

Es sind, so viel ist sicher, unwägbare Zeiten angebrochen. Max und Karl, verbandelt mit der Prostituierten Ellie, flüchten 1935 nach Paris - aus politischen und hedonistischen Gründen. Gar nicht so stille Tage im Klischee sind das: Das Trio findet die Metropole "schlichtweg großartig", denn die Stadt erweist sich als "noch liberaler, als es selbst Berlin in den goldenen Jahren vor den Nazis gewesen war". Während Max sich ins pralle Geschlechtsleben stürzt, reist Karl als Schachspieler zur Volksolympiade nach Barcelona und gerät mitten hinein in den spanischen Bürgerkrieg.

Mögliche Vorlage für einen Kostümfilm

Krausser erzählt von diesen Jahren mit Freude an kuriosen Wendungen, mit Lust an der Kolportage, durchaus auch mit großer Leichtigkeit und Witz. Wie sich Karl inmitten des historischen Strudels selbst seiner Bedeutsamkeit bewusst wird und jede Gelegenheit zu bedeutsamem Handeln fahren lässt, ist ausgesprochen lustig. In Paris nehmen Max und Ellie unterdessen einen französischen Hotelier aus, genießen die mondänen Vergnügungen und begegnen unter anderem dem Kulturattaché Ernst Eduard von Rath und seinem Attentäter Herschel Grynszpan. Der Mord diente den Nazis bekanntlich als Rechtfertigung der Reichspogromnacht.

Das alles sind mehr oder minder geschickt einmontierte geschichtliche Details, und ein ganzes Arsenal an historischen Figuren wird dabei munter durch die Kulissen geschubst. Zuweilen erinnert das an das Künstler-Dropping in Woody Allens "Midnight in Paris". Wenn man denkt, nun fehlt nur noch Klaus Mann oder Joseph Roth, kommt einer von beiden garantiert im nächsten Absatz um die Ecke gebogen.

Dass Krausser oft aufs Naheliegende verfällt, verdirbt ein bisschen den Spaß an diesem opulenten Spiel. Auch dass die Charakterisierungen der auftretenden Berühmtheiten, die ja Zeitkolorit versprühen sollen, zu sehr aus unserer heutigen, klischierten Warte gezeichnet sind, stört: "Max meinte, dass jede Zeile von Thomas Mann mit abgespreiztem kleinen Finger geschrieben wirke, schwules Geschwülst, wer nur die mindeste Ahnung von Literatur habe, könne daran nicht vorbeisehen."

Max indes glaubt, dass er eine Menge von Literatur versteht. Er hat sogar literarische Ambitionen und sucht die Nähe seiner Vorbilder. Einmal - noch in Berlin - konsultiert er unter einem Vorwand den bewunderten Lyriker, Haut- und Geschlechtsarzt Gottfried Benn in seiner Praxis. Alfred Döblin belästigt er nach einer Lesung mit der Bitte, das erste und einzige Kapitel seines Romans "Die Sinnlosigkeit" zu lesen. Dieses Machwerk, das Ausdruck von Maxens Lebenspathos ist, spielt keine unwichtige Rolle. Es illustriert nicht nur die Traumgespinste des Nietzscheaners; es kommentiert auch auf gewisse Weise Kraussers Buch selbst: "Ich muss einen Roman schreiben, dachte er. Essays reichen längst nicht hin für diese Zeit. Ein monströses, bunt flirrendes Gewölle voll Abscheu und Ekel, aber auch Neugier und Majestät. Ein großer und neuer Roman. Notwendig muss er sein. Nicht unbedingt schön."

Kraussers "Nicht ganz schlechte Menschen" endet abrupt im Jahr 1939 mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es ist weder ein großer noch ein neuer Roman, schön und unterhaltsam ist er aber doch, eine stilistische Parodie und Hommage an die Literatur der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Als Vorlage für einen turbulenten Kostümfilm in den Kulissen des swingenden Berlin und Paris ist das Buch jedenfalls wunderbar geeignet. Man müsste nur aufpassen, dass nicht Nico Hofmann ("Rommel") die Produktion übernimmt.

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