Über Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die in Frankreich leben, schreibt Marie NDiaye oft. Aber noch nie hat sie dieses Wort verwendet. Es kommt also einer kleinen Revolution gleich, wenn in ihrem neuen Roman "Ladivine" das Wort "Negerin" fällt, "négresse". Ein einziges Mal, auf Seite 53 der deutschen Ausgabe; es wird eine Explosion auslösen beim Leser, bei der Leserin.
Malinka, die inzwischen Clarisse heißt, bewegt sich wie eine Königin auf der Bühne eines bescheidenen Bistros in Bordeaux, wo sie als Kellnerin Anstellung gefunden hat. Auf diese Clarisse ist Verlass, sie tänzelt durch den Raum, erfüllt jeden Wunsch. Vor allem Männer kommen in der Mittagspause vorbei. Clarisse, die Rechnung! Clarisse, noch einen Café! Das neue Leben läuft wie am Schnürchen. Es ist das perfekte, geradezu grandiose Schauspiel ihrer neuen Identität als ganz normale Frau, mitten in Frankreich, das sie vor allem für sich selbst aufführt.
Doch dann taucht sie plötzlich auf, aus dem Norden ist sie angereist, und betritt das Bistro, als es sich schon geleert hat, gegen 14 Uhr: ihre Mutter Ladivine; die Mutter von Malinka, die inzwischen Clarisse heißt. Nach ihr ist der Roman benannt, "Ladivine" - die Göttliche. Und diese Göttliche ist, jawohl, die Negerin. Sie hat, als Putzfrau arbeitend, ihre geliebte Tochter in der Nähe von Paris ganz allein großgezogen und muss jetzt erkennen, dass Malinka nicht nur fortgegangen ist, sondern sich zudem einen neuen Namen zugelegt hat; so handelt es sich "weniger um ein Wiedersehen als um ein Kennenlernen".
Subtile Erzählkunst
Die ärmlich gekleidete Frau wird nicht rebellieren, so wie sie überhaupt alles im Leben hinzunehmen gelernt hat; den schwarzen Groll macht sie mit sich allein aus. Clarisse weiß, dass ihre Mutter sie nicht "Malinka" rufen wird, hier in diesem Lokal. Dennoch spürt sie den Blick der Chefin, "ohne Feindseligkeit, mit einer Art harter Betrübnis, als habe Clarisse sie getäuscht, was sie jedoch verstehen und dulden könne, dann schweifte ihr Blick noch über Clarisses lange Beine, ihre schmalen Hüften, ihr zartes Gesicht, diesmal wahrscheinlich nicht, um die Widerstandsfähigkeit dieses schlanken Körpers abzuschätzen, sondern um zu ermitteln, wie weit er dem anderen ähnelte, dem der Negerin, die sehr aufrecht am Fenster saß."
Man sieht, und es belegt zugleich Marie NDiayes subtile Erzählkunst: "Negerin" ist keine Abfälligkeit aus dem Mund eines Rassisten. Das Wort wird ja nicht einmal ausgesprochen. Eher ist es eine Maske im Sinne Jean Genets, dessen Stück "Die Neger" Marie NDiaye ohnehin inspiriert haben dürfte (und nebenbei, eine berühmte Romanfigur Genets heißt ausgerechnet "Divine", an Zufall mag man da nicht glauben). Clarisse/Malinka "sieht" das Wort im Blick der Chefin. Und dieser Blick, als ihre eigene Projektion, zieht sie zurück in jenes Leben, dem sie entfliehen wollte. Dieser Blick zerstört ihre Inszenierung, ihr schönes, erregendes Schauspiel. Klar, dass Clarisse, die eine helle Haut hat, vielleicht vom unbekannten Vater her, kündigen wird. Den Blick dieser Chefin wird sie nicht mehr ertragen können.
Marie NDiaye, geboren 1967 in Pithiviers als Tochter einer französischen Lehrerin und eines senegalesischen Vaters, der die Familie bald verließ, ist in ihrer Heimat bereits eine Klassikerin. Mit siebzehn Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman, und das gleich bei Jérôme Lindon, dem Verleger der berühmten Editions de Minuit. Im Unterschied zu ihrem Bruder, einem renommierten Historiker, hat sie sich gegen das französische Eliteschulwesen entschieden, da sie ihre Bestimmung zu schreiben schon sehr früh erkannt hatte.
Die Intuition hat nicht getrogen; ihre Stücke werden an der Comédie française gespielt; den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, bekam sie 2009 für ihren Roman "Trois femmes puissantes", der unter dem Titel "Drei starke Frauen" den Durchbruch in Deutschland brachte. Dort also, wo sie seit einigen Jahren lebt, in Berlin, und wo Teile ihres neuen Romans "Ladivine" angesiedelt sind.
Die Familientragödie, die hier erzählt wird, erstreckt sich über drei Generationen. Da wird etwas weitergereicht - was genau, das ist die dunkle, drängende Frage. Mit biblischer Wucht umkreist der Roman Schuld, Opfer, Verleugnung, Reue, Gewalt. Und das, obwohl häufig von Liebe die Rede ist, zur Mutter, zum Ehemann, zu den eigenen Kindern. Marie NDiaye schreibt in einem klassizistisch anmutenden Stil, geschult am psychologischen Roman des 17. Jahrhunderts, einem Stil, der auch dann nicht aufgegeben wird, wenn die Lüge in die Liebe einzieht, wenn Liebe ihre Fratze zeigt und umschlägt in Zweifel und Entfremdung.
Die Leerstellen rächen sich
Wie ein Staffelholz reicht Marie NDiaye die Verfehlungen weiter. Alles gewinnt eine kristalline Logik. Clarisse/Malinka verschweigt ihrem Mann, dem sympathischen Autohändler Richard Rivière, die Existenz ihrer Mutter, und so springt ihre gespaltene Identität über auf die Ehe. Richard ahnt nicht, dass der Name der kleinen Tochter - sie nennen sie Ladivine - die Großmutter ehrt, welche die Enkelin nie kennenlernen wird. Aber auch die erste Ladivine hat etwas Entscheidendes verschwiegen. Nie hat sie ihrer Tochter Malinka erzählt, woher sie kommt, wer sie ist, wo ihre Familie lebt.
Diese Leerstellen rächen sich aufs Fürchterlichste. Um zu lieben, muss man zeigen, wer man ist; auch das sagt dieser abgründig kluge, bedrückend schöne Roman. Wer sein Innerstes verschließt, aus Scham, wird irgendwann zur bloßen Hülle. So ergeht es der armen Clarisse. Ihr Mann verzweifelt regelrecht, weil er nicht zu ihr vordringt, sie emotional nicht zu fassen bekommt. Ihre Tochter Ladivine wiederum spürt ein moralisches Vakuum, denn Clarisse sagt nie, etwas sei richtig oder falsch. Aber Marie NDiaye wäre nicht die Meisterpsychologin, die sie ist, wenn sie den eingemauerten Binnenraum nicht aufbräche.
Und hier kommen die zotteligen Boten ins Spiel: die Hunde, die herrenlos vor der Tür sitzen und warten. Nennen wir sie Wächter oder Schutzengel, Abgesandte einer anderen Sphäre. Einer dieser Hunde hat die schwarzen Augen ihrer Mutter Ladivine, stellt Clarisse erstaunt fest. Es ist eine seltsame und doch magisch-unabweisbare Begegnung: Ihre Schwiegereltern sind zu Besuch gekommen, um das neugeborene Töchterchen zu begrüßen. Sie bringen einen "Wolfshund" mit, den Richard verabscheut.
Das Baby, die kleine Ladivine, liegt in der Wiege, als der Wolfshund sich heranschleicht. Die Erwachsenen bemerken es erst, als der Hund schon über dem Säugling liegt und ihm direkt in die Augen sieht, mit den Augen der Großmutter! Richard schreit vor Panik und Entsetzen; Clarisse aber ist ganz ruhig angesichts der "geheimnisvollen Seele des Hundes". Nicht jeder ist mit diesen magischen Anteilen im Erzählen der Marie NDiaye einverstanden, aber sie gehören zu ihr wie der Klassizismus ihrer Sprache. Und sie führt die Motive über Hunderte von Seiten immer wieder elegant, fast unmerklich zusammen.
Mehr als zwanzig Jahre nach dieser Episode mit dem Wolfshund wird die Tochter von Clarisse und Richard Rivière mit ihrem Mann, einem aufrechten Norddeutschen, in Berlin-Charlottenburg leben. Das zufriedene, aber unspektakuläre Dasein des deutsch-französischen Paars kreist um die beiden geliebten Kinder. Eines Tages haben sie genug von den deprimierend langweiligen Sommerferien im Campingbus an der Ostsee.
Sie reisen weit weg, in ein Land ohne Namen. Es liegt in Afrika, von Gemetzel und Völkermord zeugen die Bilder im Museum, das sie besuchen. Heiß ist es in diesem Land und schmutzig, der Koffer gleich am Flughafen abhanden gekommen. Am Straßenrand entdecken sie Kleidungsstücke aus ihrem Koffer, zum Kauf dargeboten. Der Urlaub, ein Albtraum. Einerseits.
Ladivine, die Göttliche
Andererseits scheint hier jemand auf vertrautem Terrain zu wandeln, und das ist Ladivine. Sie wird angesprochen im Bus von einer fremden Frau, die sie fragt, wie denn "die Hochzeit" gewesen sei und "welches Kleid" sie getragen habe. Eine Verwechslung? Die Frage bringt aber etwas zum Klingen in ihr, als wäre sie schon einmal dort gewesen. Und ein Hund, struppig, ausgemergelt, mit schwarzen Augen, begleitet sie. Er wartet auf sie vor dem Hotel und folgt ihr durch die unbekannten Straßen. Wessen Seele steckt in ihm: die ihrer Großmutter Ladivine, der Göttlichen, deren Namen sie trägt? Fest steht nur, dass Ladivine Rivière nicht mit ihrer Familie nach Berlin zurückkehren wird.
In der französischen Provinz wird derweil eine alte Frau als Zeugin vor Gericht geladen. Wir kennen sie. Sie heißt Ladivine Sylla. Ihre Tochter ist ermordet worden, mit knapp über fünfzig, und die alte Frau kennt den Mörder. Er heißt Freddy Moliger (eine sagenhafte Nebenfigur). Ehrlich gesagt hatte sie ihn sogar gern gehabt, diesen Freddy, für den sie ein paar Mal gekocht hatte. Ein Säufer zwar, ein Sozialfall, aber der erste Mann, den ihre Tochter nicht vor ihr verheimlicht hatte. Es war, für Ladivine, wie die Aufhebung eines Fluchs gewesen. Die Gefahr, in der Malinka schwebte, denn so nannte ihre Tochter sich wieder, hatte Ladivine Sylla nicht erkannt, nicht erkennen können in ihrem kurzen Glück.
Dieser phantastische, todtraurige Roman handelt von einer Einsamkeit, der niemand entkommt und die doch jeden antreibt. Sehr schön übersetzt von Claudia Kalscheuer, entfaltet "Ladivine" einen Sog, der in Regionen führt, die man freiwillig nicht betreten würde. Hat man sie aber einmal kennengelernt, möchte man sie nicht mehr missen - so blutig sie auch zugegebenermaßen sind.