Roman "Königreich der Dämmerung":Als der Frieden noch kriegerisch war

FILER IMMIGRANTS ON SHIP EXODUS IN HAIFA IN 1947

Ein Thema, das kaum bekannt ist: das Schicksal Zehntausender Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg als "displaced persons" von einem Land ins andere verschickt wurden. Im Bild: Ankunft eines jüdischen Einwandererschiffes in Haifa 1947.

(Foto: REUTERS)

Steven Uhly erzählt in "Königreich der Dämmerung" von der Zeit nach 1945, als der Krieg noch monatelang weiterging. Ein spannender Roman - weil der Autor auch bekannte Dinge gegen ihre übliche Interpretation deutet.

Von Karl-Markus Gauss

Es ist verwunderlich, dass dieser Roman bisher so wenig Aufsehen erregt hat, scheint er doch wie geschaffen dafür zu sein, kontrovers diskutiert zu werden. Im "Königreich der Dämmerung" ist von Aspekten der deutschen Geschichte die Rede, die bisher literarisch nahezu völlig ausgeblendet waren, und dies auf eine Weise, die bei aller artifiziellen Komposition nicht nur anregend ist, sondern streckenweise auch anstößig anmutet.

Der Roman erzählt von den Vierziger- bis zu den Siebzigerjahren mit souveränem Faktenwissen die Geschichte dreier höchst unterschiedlicher Familien, deren Wege sich unheilvoll kreuzen. Da ist der SS-Obersturmbannführer Ranzner, der in Polen den Völkermord an den Juden exekutiert, später in Pullach beim Bundesnachrichtendienst unterschlüpft und mit einer treudeutschen Ehefrau zwei unglückliche Kinder zeugt. Da ist die junge, schöne Anna Stirnweiss, in Polen von Ranzner als jüdisches "Mädchen für alles" jahrelang missbraucht und mit der letzten Vergewaltigung geschwängert, die mit ihrem Kind nach Palästina auswandert und den Staat Israel aufbauen hilft; und da ist das volksdeutsche Ehepaar Kramer, das aus Rumänien in den "Warthegau" umgesiedelt wurde und den Säugling einer jüdischen Widerstandskämpferin, die bald nach der Entbindung sterben wird, als eigene Enkelin ausgibt und rettet.

Vieles kommt so zusammen: Der fanatische Nationalsozialist, der bis an sein jämmerliches Ende von der sexuellen Gemeinschaft mit der von ihm missbrauchten Anna träumt; die missbrauchte Frau, die mit ihrem von einem Kriegsverbrecher gezeugten Kind in Israel lebt und unter dem Diktat des Verschweigens eine schwierige Ehe führt; die entwurzelte volksdeutsche Familie, deren eigene Kinder sterben oder in der Gosse landen und deren vermeintliche Enkelin eines Tages die wahre Geschichte zu erfahren begehrt.

Verfängliche Passagen

Diese Konstellation bietet dem Autor Gelegenheit für verfängliche wie bezwingende Passagen, vor allem aber auch dafür, ein Thema anzuschlagen, das kaum bekannt ist: Nämlich das Schicksal Zehntausender Juden, die 1945 als "displaced persons" von einem Land ins andere verschickt wurden und in bewachten Siedlungen vor dem Mob geschützt werden mussten - Tausende von ihnen zogen in den ersten Monaten nach dem Krieg nahezu vogelfrei durch Europa, verzweifelt gesucht von jüdischen Organisationen, die sie über militärische Zonengrenzen hinweg zu den Hafenstädten, auf die Schiffe nach Palästina schmuggeln wollten, was die britische Besatzungsbehörde mit aller Macht zu verhindern versuchte. Der Krieg, erfahren wir in zahllosen Episoden, ging noch monatelang weiter, als er offiziell längst beendet war.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren und in einer bengalisch-deutschen Familie aufgewachsen, geht mit seinem vierten Roman aufs Ganze. Er baut ein Modell der großen Geschichte aus lauter kleinen Begebenheiten, die er auf 187 kurze Kapitel aufteilt. Die Passagen, die dem jüdischen Kommando Brichah gewidmet sind, bestechen schon durch ihren sachlichen Gehalt. Wie da junge jüdische Aktivisten im zerstörten Europa auf der Suche nach Überlebenden sind, die sich noch lange nach Kriegsende verstecken müssen, um nicht Opfer von Pogromen zu werden; wie sie die Überlebenden nach und nach aufspüren - Juden, die "nach dem Krieg ausgerechnet in Deutschland Schutz vor den Polen" suchten; wie sich in Deutschland gleichzeitig die versprengten Kriegsverbrecher sammeln und einander zu neuen Identitäten verhelfen, um in den Institutionen der Bundesrepublik unterzukriechen: Das alles legt Uhly mit historischer Kenntnis und literarischem Geschick dar. So weiß er dem Bild, das wir uns von jenen Monaten im Dämmerreich zwischen Krieg und Frieden, Zerstörung und Neuaufbau machten, neue Facetten hinzuzufügen.

Das Schicksal der drei Familien und ihrer Protagonisten verfolgt Uhly in drei selbständigen Strängen, die er mehrfach miteinander verknotet. Problematisch, fragwürdig ist jener Strang, der dem Obersturmbannführer Ranzner und dessen weltanschaulichen und sexuellen Obsessionen gewidmet ist. Wie seinen anderen Figuren versucht Uhly auch dem Verbrecher ganz nahe zu bleiben, er schreibt abwechselnd aus auktorialer Perspektive und mittels der erlebten Rede, also gewissermaßen aus dem wirren Kopf und dem finsteren Herzen eines Menschen heraus, der zugleich Herrenmensch und Untertan ist, Frauen vergewaltigt und sich liebeskrank nach einer von ihnen verzehrt.

Mal missbrauchte Frau, mal missbrauchender Mann

Schon als er noch Herr über ihr Leben war, liebte der Gewalttäter in Wahrheit sein Opfer, allerdings war er sich damals noch nicht im Klaren darüber: "Er würde sie eher töten lassen, als sich seine Liebe einzugestehen." Später, gefangen in einem langweiligen Frieden, in einer langweiligen Ehe, wird ihm der Krieg zur aufgeilenden Vorstellung und Anna zur Obsession. Er ist besessen von der Frau, über die er einst nach Belieben verfügen konnte, und verfällt seinen Erinnerungen und Phantasien, bis er seine bürgerliche Existenz ruiniert hat. Ein Opfer auch er? Ein Opfer seiner verbrecherischen Begierden, seiner törichten Liebe?

Uhly entrichtet dem Eros des Bösen, der neuerdings wieder gerne mit literarischem Chic ausgestattet wird, keinen Tribut. Aber auch um sich in einen pathologischen Gewalttäter einzufühlen, braucht es Empathie, und es verstört, wenn sich der Erzähler kapitelweise einmal in die Seele der missbrauchten Frau, dann in die des missbrauchenden Mannes versetzt. Dabei ist diese Fähigkeit zur Empathie eine der vielen Stärken des Erzählers Uhly. Noch die Nebenfiguren stattet er mit markanten biografischen Details und persönlichen Eigenheiten aus. Uhly scheut nicht die starken Gefühle und schreitet manchmal tapfer am Rand des Kitsches entlang, ohne seine Figuren an diesen zu verraten.

Was den Eltern widerfuhr, wirkt in den Kindern fort

Die Lebensgeschichte Annas führt den Roman nach Israel, auch dies ein Land, auf dem ein Schweigen lastet, das viele Überlebende des Holocaust über sich und ihre Erlebnisse verhängt haben. Was den Eltern widerfuhr, wirkt in den Kindern fort, nicht immer nur zerstörerisch, sondern auch als Auftrag, über das Unglück der Eltern hinauszugelangen. Geradezu sensationell ist, wie Uhly von Marta Kramer erzählt, der volksdeutschen Frau, die eines Tages das Unerhörte tut, ohne dafür ideologisch gerüstet oder religiös motiviert zu sein; sie nimmt die hochschwangere Widerstandskämpferin bei sich auf und versteckt sie im Keller, wo diese sich die Zeit mit dem einzigen Buch vertreiben muss, das sie dort findet, dem Ratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind".

Mit der erstaunlichen Frau Kramer und ihrer zerfallenden Familie stellt sich der Roman einem weiteren brisanten Thema, den sogenannten Volksdeutschen, die jahrhundertelang in Ost- und Südosteuropa siedelten, von den Nationalsozialisten als "unerlöste Volksgenossen" mobilisiert und nach dem Krieg aus ihren angestammten Gebieten vertrieben wurden. Mit ihrem blutigen Versuch, die versprengten deutschen Volksgruppen zu Herrn über ihre Nachbarn zu machen, haben die Nationalsozialisten selbst den Untergang des "Deutschtums" im Osten und Südosten Europas in die Wege geleitet. Uhly fasst es einmal in das einprägsame Bild vom rückwärts laufenden Film: Wie "alles Vergossene wieder in die kleine Kanne fließt, aus der es kam, so war dieser menschliche Rückfluss in das Gefäß des Deutschen Reichs, das tausend Jahre zuvor begonnen hatte, sich nach Osten zu neigen, und man würde eines Tages mit Fug und Recht behaupten können, das Tausendjährige Reich sei in Wahrheit das Ende des Tausendjährigen Reiches gewesen".

Kompositorisch und formal geht Uhly kalkuliert und originell zu Werke. In die chronikalische Abfolge der Kapitel streut er Abschnitte ein, die das zeitliche Geschehen aufheben: Einmal klagen die Ermordeten in ihrem Dämmerreich über die Gewalttaten, die sie erleiden mussten; dann wieder wird der Fluss des Erzählens unterbrochen, damit der Erzähler aus viel späterer Perspektive einen distanzierten Blick auf das Geschehen werfen kann; und die Rede des Obersturmbannführers, der seine Mannschaft zum großen Massaker an Polen und Juden abkommandiert, ist voll der deklamatorischen Heuchelei in Versen abgefasst.

Ein spannender, gründlich recherchierter Roman, mit einer Fülle an bemerkenswerten Figuren, von denen eine auf irritierende Weise und aus intimer Nähe porträtiert wird. Ein Roman, der vergessene, verdrängte Ereignisse einer Ära aufgreift, als der Frieden noch ziemlich kriegerisch war. Ein Autor, der sich nicht scheut, die bekannten Dinge auch gegen ihre übliche Interpretation zu deuten. Ja, es ist rätselhaft, dass Steven Uhlys "Königreich der Dämmerung" nicht im Zentrum literarischer Debatten steht.

Steven Uhly: Königreich der Dämmerung. Roman. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2014. 661 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.

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