Roman "Kirschholz und alte Gefühle":Pausen im Gedächtnis

Marica Bodrozic

Marica Bodrozic wuchs in der Nähe der kroatischen Stadt Split auf. Seit 1983 lebt sie in Deutschland. Ihr neuer Roman ist das Mittelstück einer entstehenden Trilogie.

(Foto: Peter von Felbert/Luchterha)

Arjeta aus Sarajevo hat Freunde, Verwandte, vertraute Dinge und Verhaltensweisen verloren. Nur den Tisch der Großmutter konnte sie retten. In "Kirschholz und alte Gefühle" erzählt Marica Bodrozic von Jugoslawien, vom Leben im Berliner Exil und dem Wiedererwecken alter Gefühle - ein Roman von leuchtender Intensität.

Von Karl-Markus Gauss

Arjeta ist in Sarajevo aufgewachsen, hat in Paris studiert und lebt seit fünf Jahren in Berlin. Auf der langen Wanderschaft ist ihr vieles abhandengekommen: die Sicherheit, sich neugierig die nahe und die ferne Welt anzueignen, das Vertrauen, dass die Vergangenheit in ihrem Gedächtnis lebendig bleiben werde, und vor allem: Jugoslawien und ihre glückliche Kindheit in diesem Staat vieler Völker.

Freunde und Verwandte hat sie verloren, vertraute Dinge, Verhaltensweisen, die einst selbstverständlich waren und jetzt nichts mehr gelten. Aber eines hat sie sich über all die Jahre zu retten gewusst: den Tisch der Großmutter, den sie, wohin es sie auch verschlug, mit sich nahm.

Er ist so wichtig für den neuen Roman der 1973 in Dalmatien geborenen, seit ihrem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebenden Marica Bodrozic, dass er sogar im Titel, "Kirschholz und alte Gefühle", auftaucht. Arjeta ist gerade wieder übersiedelt, und in der neuen, leeren Wohnung in Berlin steht fast nur der Tisch aus Kirschholz, damit sie auf ihm gleich die Fotos ausbreiten kann, die sich im Laufe der Jahre in ihrem Übersiedlungsgepäck angesammelt haben.

Sie weiß, sie muss nur ein wenig mit dem Messer auf seiner Platte kratzen: "Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat." Der Tisch beweist, dass zwischen dem Einst und dem Jetzt, zwischen Sarajevo, Paris, Berlin eine Verbindung besteht und das Leben, das Arjeta zu zerfallen droht, doch eine Einheit bildet.

Die Erzählerin versucht etwas Ordnung in ihre Erinnerungen zu bringen

Die Ich-Erzählerin ist Ende dreißig, als sie in der neuen Wohnung ein wenig Ordnung in ihre Erinnerungen zu bringen versucht und dabei auf nicht viel mehr als ihre Sprache, ihre Gabe, die Dinge zu beobachten und den Ereignissen träumerisch nachzusinnen - und den Tisch setzen kann. Gerne würde sie auf ihr Gedächtnis vertrauen, aber gerade um dieses ist es nicht gut bestellt. Von Kindheit an erleidet sie oft kleine Anfälle, Aussetzer des Bewusstseins, die zu "Pausen in meinem Gedächtnis" führen und von den Medizinern als "Pétit mal" bezeichnet werden. Es ist für Arjeta also noch schwieriger als für die vielen Flüchtlinge und Emigranten, deren Wege die ihren kreuzen, den Zusammenhang ihres Lebens zu bewahren. Gerade deswegen versucht sie es intensiver als die anderen.

In den ersten Jahren nach dem Zerfall Jugoslawiens schreiben sich all die Verwandten, Freunde, Weggefährten unentwegt Briefe, die einen hat es nach Skandinavien, andere in die USA oder nach Kanada verschlagen. Doch eines Tages fällt Arjeta auf, dass keine Post der Versprengten mehr bei ihr eintrifft, weil die Flüchtlinge endlich beschlossen haben, nicht länger unbehauste Fremde zu bleiben, die in der Erinnerung leben, sondern sich dort, wo sie aufgenommen wurden, zu beheimaten.

Bildern von leuchtender Intensität

Arjeta hingegen muss sich ständig ihrer Erinnerungen versichern, weil sie anders in ihrem Leben keinen sicheren Grund mehr finden kann. So springt sie in Gedanken von Sarajevo nach Paris, von den glücklichen Sommern bei der Großmutter in Istrien zu jenem Tag, an dem ihre beiden Brüder beim Spielen im belagerten Sarajevo auf eine Mine traten, in Stücke gerissen wurden und sie von ihnen auf der Wiese nichts mehr fand als ihre Füße. Ihr Vater, ein schweigsamer Intellektueller, beschloss damals, für immer in Sarajevo zu bleiben: "Hier ist unser Zuhause. Hier sind unsere Toten."

Zu Arjetas Lebensmenschen gehört der jugoslawische Maler Arik, der ihr in Paris nachstellt und dem sie geradezu gegen ihren Willen verfällt. Er ist genial, verzweifelt, egoistisch, selbstzerstörerisch - und einer, der als echter Balkanmacho zu Hause "in seiner Unterwäsche Schnaps trinkt". Als sie von ihm schwanger wird, verlässt er sie, worauf sie das Kind zwar austrägt, den Säugling aber zur Adoption freigibt; frei wird sie selbst dadurch natürlich nicht, zu den vielen Dingen, an die sie sich zu erinnern versucht, kommt nun dieses traumatische Ereignis hinzu, das sie zu vergessen trachtet. Die Erzählgegenwart umfasst sieben Tage nach Arjetas Übersiedlung in die neue Wohnung, denen jeweils ein eigenes Kapitel vorbehalten ist.

Die Erzählerin erweckt die "alten Gefühle" in ihrem Inneren wieder

Diese Struktur legt natürlich den Gedanken an die Schöpfungsgeschichte nahe, und tatsächlich erschafft Arjeta sich in diesen sieben Tagen neu, gerade weil sie die "alten Gefühle" nicht verloren gibt, sondern in ihrem Inneren wieder erweckt. Das Geschehen ist ganz aus der Perspektive dieser gescheiten und verstörten Frau gedeutet, das verlangt konzentrierte Leser, die den Wechsel von Schauplätzen, Zeiten, Figuren, den sie oft von einem zum nächsten Absatz vornimmt, nachzuvollziehen bereit sind. Schärfere Kontur als die vielen Onkeln und Tanten, als die Freunde aus der Kindheit und dem Exil erhält merkwürdigerweise manche Nebenfigur des Romans, wie etwa der schüchterne kroatische Philosoph, der ausgerechnet im vaterländischen Rausch jene Gemeinschaft zu finden glaubt, nach der er sich immer gesehnt hat.

"Kirschholz und alte Gefühle" ist das Mittelstück einer entstehenden Trilogie, deren erster Band, "Das Gedächtnis der Libellen", bereits 2010 erschienen ist. Einige Gestalten, die in diesem schönen, atmosphärisch stimmigen Roman eine zentrale Rolle spielten, tauchen im zweiten Band neuerlich auf, etwa die Physikerin Nadeshda, mit der Arjeta die Vorliebe für Unglück bringende Männer teilt.

Der neue Roman ist so poetisch wie der vorangegangene, kompositorisch jedoch komplexer und im erzählerischen Zugriff kühner. In Bildern von leuchtender Intensität erzählt Marica Bodrozic davon, was "Jugoslawien" war und Exil bedeutet; und sie zeigt, dass Arjeta nur eine Zukunft haben wird, wenn sie bereit ist, die Akten über ihre Vergangenheit nicht zu schließen.

Marica Bodrozic: Kirschholz und alte Gefühle. Roman. Luchterhand Verlag, München 2012. 220 Seiten, 19,99 Euro.

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