Süddeutsche Zeitung

Roman "Junge rettet Freund aus Teich":Wagnis mit Erinnerungsfetzen

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"Für meine Mutter bin ich ihr Ein und Alles, und meine Großeltern haben mich auch lieb": Trotzdem referiert "Studio Braun"-Mitglied und "Fleisch ist mein Gemüse"-Autor Heinz Strunk seine Jugend und das Aufwachsen in Hamburg-Harburg kühl und distanziert.

Von Bernd Graff

Heinz Strunk hat über das Leben eines Heranwachsenden geschrieben. Es sind zwar fiktionale Elemente eingestreut, aber es ist sein Leben. Strunk ist jetzt etwas über fünfzig, ein Mann in seinen besten Jahren, aber doch schon so alt, dass seine Jugend eine kleine Weile her ist. "Junge rettet Freund aus Teich" ist vor allem ein Erinnerungsbuch. Aber der Clou, den Strunk für die Erzählung von Kindheit und frühen Jahren wählt, ist ein Wagnis. Berichtet wird in drei großen Etappen. Der Junge als Sechsjähriger, als Zehnjähriger, als 14-Jähriger: das ist so ungewöhnlich nicht. Doch für jeden dieser Blöcke wählt Strunk eine Sprache, die jeweils altersgemäß sein soll und damit den Reifegrad und das Weltverstehen des Kindes, des Schülers, des Pubertierenden widerspiegeln. Das ist das Wagnis.

Heinz Strunk, der Autor des Bestsellers "Fleisch ist mein Gemüse" und mit Jacques Palminger und Rocko Schamoni Mitglied des Trios "Studio Braun", heißt eigentlich Mathias Halfpape, er wurde in Hamburg-Harburg geboren. Auch der Ich-Erzähler dieses Romans heißt Mathias Halfpape. Er lebt als Einzelkind mit der alleinerziehenden Mutter bei den Großeltern in Hamburg-Harburg. Die Mutter, eine Musik-Lehrerin, die Blockflöte und Klavier unterrichtet, kommt oft erst spät von der Arbeit zurück. Mathias wird mehr oder weniger von den Großeltern betreut, ist aber - da noch - ziemlich glücklich.

Erst nach und nach erfährt man, dass mit der Mutter etwas nicht stimmt. Sie isst zu wenig, ihr schmeckt nichts. Ihre Stimmungen schwanken. Später erfährt man mehr von ihrer psychischen Erkrankung, die im Buch mit Selbstmord endet.

Im Jargon des Sechsjährigen werden Kindheitserinnerungen, Einschulung, Spielnachmittage so geschildert, wie sie wohl abgelaufen sein mögen, aber sie werden natürlich nicht reflektiert. Heraus kommt - auf fast achtzig Seiten! - ein chronologisches, aber ungeordnetes, teils wüstes Aneinanderreihen von Erinnerungsmomenten, die kaum zu einer Erzählung zusammengebunden erscheinen. Es sind lose Versatzstücke in einer Berichtsform, in die das piefig kleinkarierte Geplapper von Erwachsenen mit einfließt: "Mutter verdient sehr wenig. Wenn Opa nicht seine Rente von 2700 Mark hätte, müsste sie Sozialhilfe beantragen, hat sie mal gesagt. (. . . ) Für meine Mutter bin ich ihr Ein und Alles, und meine Großeltern haben mich auch lieb, auch mein Opa, der immer sehr streng war sein ganzes Leben, nur zu mir und zu Oma nicht. Er hat mich nie geschlagen, hat Oma mal gesagt."

In diesem Ton plätschert es weiter. Zwar referiert der 10-Jährige anders, es kommen eigene Reflexionen dazu, die das Erlebte einordnen, beim 14-Jährigen hat sich fast schon eine stabile Haltung zur Welt entwickelt. Aber empathisch berichtet, mit Herzblut geschildert ist das alles nicht. Strunk schildert seine Jugend, als wäre er nicht dabei gewesen. Es sind kalte Augenzeugen-Notate von der Art: "Mittlerweile glaube ich, dass ich in sie verliebt bin, und das schon seit Jahren." Selbst schlimmste Demütigungen und Schicksalsschläge, die missglückten Annäherungsversuche bei Mädchen, der Zerfall der Familie durch Krankheit und Tod - sie passieren nur, mehr nicht. Momente, die man traumatisierend nennen müsste, werden kühl referiert, als gingen sie ihren Erzähler auch gar nichts an. Man gewinnt den Eindruck einer in taub gewordener Melancholie verbrachten Kindheit.

Der Autobiograf listet Begebenheiten, aber er deutet ihre emotionalen Valeurs kaum, ganz so, als seien sie an seiner Seele abgeglitten wie an einer Teflonpfanne. Das Drama, das sich faktisch abspielt, siedelt auf derselben Erlebnisstufe wie die Fernsehsendung mit Wim Thoelke. Für den Leser ist es, als blättere er in einem fremden Familienalbum und höre Geschichten, die von einem Fremden erzählt werden, der sie selber nur vom Hörensagen kennt.

Das ist in dieser distanzierten Tonalität völlig anders als in Frank McCourts "Die Asche meiner Mutter". Auch McCourt berichtet von seiner schlimmen Kindheit. Er tut das in einer Sprache, die zwar auch direkt aus einer Kinderaufzeichnung kommen könnte, die aber, und das merkt man sofort, nicht der Kinderperspektive entspringt. McCourt konterkariert das mitleidlose Elend seiner Jugend mit Humor.

Durch den Kunstgriff etwa, die hormonelle Not von Pubertierenden in der altertümelnden Verdammnis-Rhetorik der katholischen Kirche zu schildern, verdeutlicht der irisch-stämmige Autor das Missverhältnis von Wirklichkeit und kirchlicher Doktrin. So berichtet der 14-jährige McCourt: "Ich klettere ganz oben auf die Burg, und dort, wo ganz Irland mich sehen kann, spiele ich an mir herum und spritze über ganz Carigogunnell und noch weiter über die Felder. Das ist eine Sünde, die ich nie einem Priester erzählen könnte. Irgendwo da unten hat vielleicht ein Junge oder ein Milchmädchen hochgeblickt und mich in meiner Sünde gesehen. Dann bin ich verdammt. Trotzdem bringt der Gedanke, dass mich vielleicht jemand beobachtet, wieder die Aufregung mit sich."

Ganz anders klingt so etwas bei Strunk. Auch hier gibt es eine Masturbations-Szene. "Mit der Wichserei wird es immer ärger", berichtet der 14-Jährige. "Meist pumpe ich mich schon morgens nach dem Aufwachen ab. Doch das hält nicht lange vor, schon auf dem Weg zur Schule werde ich wieder rallig. In der großen Pause verziehe ich mich oft hinter den Lehrerparkplatz, von hier aus kann ich meine Klassenkameradinnen auf dem Schulhof beobachten, ohne selber gesehen zu werden."

Zwischen McCourt und Strunk liegen Kulturwelten mit einigem historischen Abstand. Das ist aber nicht der Punkt. Beide Autoren beschreiben das Aufwachsen in prekären Milieus. Doch während es McCourt gelingt, die Tristesse in körperwarmen Sprachfarben zu malen, fällt bei Strunk die aseptisch flache Berichtsform auf, die seine Kindheit abhandelt, als wär's kein Stück von ihm.

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau hat Strunk auf die Frage: "Können Sie sich Dinge von der Seele schreiben?" geantwortet: "Schreiben als Therapie - das funktioniert in meinem Fall leider nicht. Wenigstens kann ich sagen: Nichts war umsonst. Die meisten Leute müssen sich mit der toten Erinnerung zufriedengeben, ich kann alles aufarbeiten." Es mag sein, dass die Form des stoisch unerschütterten Referats erschütternder Erlebnisse für Heinz Strunk eine Art von Aufarbeitung war. Für den Leser, und auch das hat Strunk in diesem Interview gesagt, kommt dabei kaum mehr heraus als ein Blick auf "alle Erinnerungsfetzen, derer Strunk habhaft werden konnte".

Heinz Strunk: Junge rettet Freund aus Teich. Roman. Rowohlt Verlag, Frankfurt am Main 2013. 288 Seiten, 19,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 24.04.2013
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