Julia Schoch "Das Vorkommnis":Wir haben übrigens denselben Vater

Julia Schoch "Das Vorkommnis": Alles in Ordnung? Hinter den Gardinen der scheinbar einfachen Verhältnisse wohnen die Dämonen.

Alles in Ordnung? Hinter den Gardinen der scheinbar einfachen Verhältnisse wohnen die Dämonen.

(Foto: imago stock&people)

Ein Familienroman aus der Hölle, ist das nicht der Normalfall? Julia Schoch aber schlägt mit ihrem Roman über Lügen und verschwiegene Verwandte neue Wege ein.

Von Hubert Winkels

Es ist kein einladender Titel. Er wirkt spröde und neutral. Der Ausdruck "Das Vorkommnis" ähnelt in Grammatik und Form einigen jüngeren Romantiteln wie "Das Ereignis" oder "Widerfahrnis". Das Unabdingbare, das damit gesagt ist, verweist auf das Drama und seine griechischen Wurzeln. Die antiken Tragödien behandeln das Verhängnis. Die Menschen mühen sich, dem Geschehen ihre Richtung zu geben, und erfüllen dabei nolens volens den Auftrag der Götter. Der "Ödipus" des Sophokles ist hier einschlägig und auch für uns nicht außer Geltung dank Freuds musterhafter Aktualisierung, man könnte auch sagen: Bewahrnis.

Bleiben wir einen Moment beim Einstieg. Dem Roman steht ein Motto voran. Es ist ein kurzer englischsprachiger Dialog, und er stammt aus einem älteren Kinofilm, "Flesh and Bone". Kay, die junge Frau, gespielt von Meg Ryan, sagt zu Arlis, gespielt von Dennis Quaid: "What's that on your pocket?" Seine Antwort: "That's nothing. It's just a little blood." Was hast du da an deiner Tasche? Nichts, nur ein bisschen Blut. Es sind die letzten Sätze des Films. Arlis fährt in seinem Pick-up davon. Kurz zuvor hat er seinen Vater erschossen. Genau in dem Haus, in dem der Vater zwanzig Jahre vorher aus Habgier Kays Familie ausgelöscht hat. Der Film erzählt davon, wie Arlis die Erinnerung einholt.

Die Medien dieser Erinnerung sind dieselben wie in "Das Vorkommnis": Zettel, Geschichten, alte Fotos. Sie öffnen einen Raum hinter den vorgeblich einfachen Verhältnissen. Nichts stimmt mehr, nichts ist, was es zu sein scheint. Es ist ein schrecklicher Raum, bewegt von den Gespenstern einer ungreifbaren Vergangenheit. Sie sind das Familiengeheimnis, das Trauma am Grund der sozialen Gemeinschaft, oder trivialer: die Leiche im Keller, die fast allen Erzählungen von Familien zugrunde liegt.

Ein Familienroman aus der Hölle. Literarisch ist das der Normalfall

"Flesh and Bone" tendiert zum Horrorfilm, "Das Vorkommnis" zunächst zum zeithistorisch eingebetteten Familiendrama, obwohl es sich schleichend zum Familienhorror entwickelt, immer in der Perspektive der Ich-Erzählung einer jungen Mutter, die schließlich mehrfach vom "Haus der Finsternis" spricht. "Wir wissen nicht, was in dem Haus der Finsternis geschieht, solange wir nicht selbst darin wohnen. In den Häusern der Finsternis."

So düster das ist, so vertraut klingt es auch. Ein Familienroman aus der Hölle, das ist, literarisch und psychoanalytisch gesehen, der Normalfall. Was macht Julia Schoch mit ihrem Buch anders, was ist das Besondere an "Das Vorkommnis"? Sie deckt den Kern des Dramas schon in den ersten Sätzen auf, zeigt statt des Fehlens das Überzählige, statt der Lücke das Zuviel, statt der Leiche die wiedergefundene Verwandte, die "wildfremde Frau" genannt. Die Umkehrung des gängigen analytischen Dramas ins synthetische: Der Roman handelt von der unabsehbaren Wirkung dieser fatalen Frau.

Sie taucht nach einer Lesung der dies alles erzählenden Schriftstellerin auf und spricht den endlos nachhallenden Satz: "Wir haben übrigens denselben Vater." Aus diesen fünf Wörtern entwickelt sich der ganze Roman, inhaltlich und in der Erzählstruktur. Schon die folgenden beiden Absätze markieren mit dem jeweiligen Einstieg die folgenreiche Differenz, die den Roman tragen wird: "In meiner Erinnerung bricht mir bei diesem Satz der Füller aus." Hier entgleist die Feder, zieht eine "Linie des Schocks. Als wäre ich bei der Unterschrift von einer Kugel getroffen worden". Und der folgende Absatz beginnt im Gegenzug mit: "In Wirklichkeit...sprang ich sofort auf und fiel der wildfremden Frau um den Hals."

Jede Familie ähnelt einer geometrischen Figur. Manche sind mehr Kreis, andere haben Ecken

Die Erinnerung stünde also der Wirklichkeit entgegen. Jahrelang versucht die Schriftstellerin, diesen Riss in ihrer Vorstellung zu verstehen. Was bedeutet das Auftauchen einer Halbschwester für sie selbst, für ihre Schwester, ihre Eltern, Kinder, ihren Mann? Wie infiziert die eine Lüge nicht nur weitere Lügen, sondern alles Weitere überhaupt, in der Familie, im Umfeld, in der Stadt, im Land, eine alles durchdringende Lüge urbi et orbi sozusagen.

Ja, nicht einmal die Tatsache der initialen Lüge kann festgehalten werden, wenn der feste Boden einmal ins Rutschen gerät. Über Andeutungen, Fotos und Erzählungen zeigt sich bald ein früherer ähnlicher Riss: Der Großvater mütterlicherseits war als junger gut aussehender Mann zu Beginn des zweiten Weltkriegs in Frankreich stationiert und hatte eine Französin kennengelernt. Pierre heißt der aus der Verbindung entstandene Sohn, den er niemals gesehen hat. Er und seine Mutter Mathilde tragen als Einzige Namen im Roman. Die anderen werden mit ihrer familiengenealogischen Position genannt, heißen etwa die erste Schwester oder die zweite Schwester. Es gibt eine philosophisch-mathematische Begründung dafür: "Jede Familie lässt sich einer geometrischen Form zuordnen. Manche gleichen ihrem Wesen nach einem Dreieck, andere eher einem Kreis, einem Vieleck oder einem Stern. Es gibt übersichtliche Formen wie zwei eng aneinandergeschmiegte Punkte, beschützende, seltsam verquere und solche, die für die Mitglieder ein Gefängnis darstellen."

Julia Schoch "Das Vorkommnis": Julia Schoch debütierte 2001 mit dem Erzählungsband "Der Körper des Salamanders" (Piper). Ihr neuer Roman ist der erste Teil einer Trilogie.

Julia Schoch debütierte 2001 mit dem Erzählungsband "Der Körper des Salamanders" (Piper). Ihr neuer Roman ist der erste Teil einer Trilogie.

(Foto: Sabine Gudath/imago images)

Bald nach der verwirrenden Lesung reist die Autorin mit ihrer Mutter und den zwei kleinen Kindern nach Bowling Green in die USA, bekannt für seine internationalen Literaturkurse. Sie hält Seminare über den sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit in den Jahren nach der hier "Revolution" genannten Wende, die Positionen schon eingekapselt in zwei unvermittelbaren historisch-narrativen Einbildungen. Ein Spiegelbild auch des familiären Wirklichkeitsverlusts. Der größte Teil der Romanhandlung spielt auf dem Campus. Je genauer das konkrete Geschehen dort geschildert wird, umso stärker legt es Zeugnis ab von einer tiefen Befremdung der Erzählerin. Die andauernde Frage nach der neuen Schwester dringt in die Fugen aller Beziehungen. Nichts ist mehr mit sich selbst identisch. Selbst die kleine Tochter in der Uni-Kita wird verdächtigt, ihr Spielen nur zu spielen; und das mitgereiste Baby kommt in der Erinnerung der Mutter gar skeptisch gegenüber der Gebärenden zur Welt. Das ist der tiefste Punkt der Erzählung: der Ursprung der Welt als psychologischer Verdachtsfall.

Der von der neuen Verwandten verwandelte Blick der jungen Mutter erkennt immer mehr verborgene Zusammenhänge zwischen den symbolischen Formen der realen Welt. Es gehört zu den faszinierendsten Passagen des Romans, wie der konkrete Derealisierungseffekt der ursprünglichen Begegnung mit der neuen Schwester jedes Puzzleteil des Erzählens infiltriert. Paranoia wäre ein klinischer Begriff für diese unkontrollierbare Produktivkraft. "Süd und Nord. Ost und West. Solche Achsen, Spiegelungen und zufälligen Umstände bildeten in meiner Wahrnehmung mit einem Mal ein magisches Gewebe. Meine Vorlieben und Abneigungen, alle meine bisherigen Spuren auf diesem Planeten fügten sich zu einem logischen Puzzle."

Julia Schoch "Das Vorkommnis": Julia Schoch: Das Vorkommnis. Roman. dtv, München 2022. 192 Seiten, 20 Euro.

Julia Schoch: Das Vorkommnis. Roman. dtv, München 2022. 192 Seiten, 20 Euro.

Die letzten Zeilen des Romans knüpfen an seine widersprüchlichen ersten an. Sie beziehen sich nun direkt auf die Potsdamer Autorin Julia Schoch, die in ihrem Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" vor etlichen Jahren ein melancholisches Porträt ihrer von der vorpommerschen Ödnis erschöpften Schwester gezeichnet hat, die sich schließlich bei einem USA-Besuch umbringt. Die Autorin begegnet nun am Ende von "Das Vorkommnis" einer Bekannten aus der Schulzeit. Diese sagt etwas über die "Geschwindigkeit des Sommers", "betrübt, mitfühlend. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es mit dem Tod der Schwester zusammenhing ... Aber das war doch nur Fiktion, rief ich. Rief ich es wirklich?"

Eine "frühere" Schwester ist also tot. Ein Roman hat sie getötet. Der Ausgangspunkt des neuen Buchs ist eine wieder aufgetauchte Schwester. Es sind auch diese Spiegelbildlichkeiten von Anfang und Ende der Geschichte, von früherem und neuem Roman, die gesetzmäßig wirken - nach dem höheren Recht der literarischen Götter: dem Verhängnis.

Tatsächlich ist "Das Vorkommnis" als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel "Biographie einer Frau" geplant. Es ist nicht leicht vorstellbar, wie ein Roman mit einer so besonderen erzähldramaturgischen Aufladung fortgesetzt werden wird. Julia Schoch hat sich hier ein gutes Stück von ihrem Thema, der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte, entfernt, auch wenn man im "Vorkommnis" gelegentlich eine Parabel auf die Zeitgeschichte zu lesen glaubt. Doch die ungeheure Dichte der Korrespondenzen zwischen allen Ebenen des Romans erzeugt ein so reiches 3-D-Puzzle, dass man am Abglanz des Lebens darin seine Freude hat, auch wenn es ein entgleisendes Leben ist. Julia Schoch hat einen neuen Weg eingeschlagen. Wir folgen gespannt.

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