Süddeutsche Zeitung

Roman:Italienische Gewürzmischung

Familiendrama und Weltgeschichte: Die junge Italienerin Giulia Caminito hat etwas zu viele Themen und weit verzweigte Handlungsstränge in ihren zweiten Roman gepackt.

Von Maike Albath

Das Donnergrollen ist schon im Prolog nicht zu überhören. Ein finsterer Wald, ein armseliges Dorf, ein Gewehr, das der Bäckerssohn Nicola auf seinen älteren Bruder Lupo richten soll, obwohl der zarte Junge sich dagegen sträubt. Doch Lupo selbst befiehlt es ihm. Schließlich ein Schuss. Treffer? Das bleibt im Dunkeln, aber nicht nur das Sujet, auch der Erzählton beschwört eine archaisch entrückte Epoche. Wiederholungen rhythmisieren den Satzbau, poetische Vergleiche geben der Szene einen beinahe mythischen Anklang. Nicola, ein Schwächling ohne "Kruste", der "nicht einmal für Brotsuppe" taugt, sieht an diesem Nachmittag sein Leben fortlaufen wie "ein Rinnsal Süßwasser". Mit derartig expressiven Bildern einen Roman zu eröffnen, ist ein Wagnis.

Giulia Caminito lässt sich in "Ein Tag wird kommen", ihr zweites Buch und zugleich ihr deutsches Debüt, mit großer Unbefangenheit auf dieses Risiko ein. Der Kain-und-Abel-Effekt des Anfangs ist wohl kalkuliert und soll Spannung schüren, was aber angesichts der sich überstürzenden Schicksalsschläge, von denen Caminitos Romanfamilie Ende des 19. Jahrhunderts in den Marken heimgesucht wird, fast in Vergessenheit gerät. Zunächst einmal trägt die Autorin die Genealogie nach, und erklärt, dass der Vater Luigi Ceresa, "grob und rau wie die Kruste seines Brotes, hart wie Roggen, unverdaulich für die vielen, die er nicht liebte", aus Verzweiflung über die zahlreichen Totgeburten seiner schon fast erblindeten Frau Violante eines Tages ein fremdes Kind an die Brust legte, eben jenen hellhäutigen Nicola, der wie aus der Art geschlagen wirkt. Oder, um es mit Caminito zu sagen: "wie eine Blume im Stall". Der kluge Junge steht schon als Kleinkind unter dem Schutz des kräftigen, aufmüpfigen Lupo, der ihm die Schule bezahlt und ihn vor den Übergriffen des Vaters verteidigt. Lupo verdankt seinen Namen dem Heiligen Lupus, aber auch die wortwörtliche Bedeutung schwingt mit - er ist unerschrocken wie ein Wolf. Dass er einen Begleiter an seiner Seite hat, der ein gezähmter Wolf ist und sinnfälliger Weise "Cane", also Hund genannt wird, soll seinen Charakter auf motivischer Ebene unterstreichen, wirkt aber zu forciert, wie so vieles an diesem Roman.

Weil die älteste Schwester Nella vor Lupos Geburt ins Kloster verbannt wurde und dann noch ein Priester mit wohlfeilen Ratschlägen aufwartet, ahnt der familiendramengestählte Leser Böses. Und dies ist nur der Haupthandlungsstrang. Rückblenden katapultieren uns in den Sudan, wo ein schwarzes Mädchen entführt wird, das just im Kloster des armseligen Dorfes in den Marken landet, zu einer allseits verehrten Äbtissin heranwächst und Nella in ihre Obhut nimmt. Drumherum beginnt dann auch noch die Weltgeschichte zu explodieren: Anarchistische Erhebungen, bei denen Lupo mitmischt, Streikwellen, die Italien erschüttern, der Erste Weltkrieg, das Gemetzel an der Front, die Spanische Grippe, Mussolini, der in den Startlöchern sitzt. All das soll irgendwie verwurstet werden, und es verstärkt sich der Eindruck, dass Giulia Caminito viel zu viele Gewürze in die Roman-Suppe schüttet. Zu viele sterbende Geschwister, zu viele Schauplätze, die nur angerissen werden, eine stolpernde Dramaturgie und dann noch die Fülle der historischen Ereignisse. Die Autorin kann sich nicht entscheiden, welches die prägenden Ereignisse für ihre Figuren sein sollen. Mit ihrer bildhaften Sprache und den lyrischen Vergleichen setzt Giulia Caminito einen eigenen Akzent, aber durch übermäßigen Gebrauch verschleißt sich ihr Stilmittel, der geheimnisvolle Ton verliert an Kraft.

Dass die römische Schriftstellerin, die 1988 geboren wurde und Philosophie studiert hat, nicht einen der üblichen postadoleszenten, lakonischen Entwicklungsromane geschrieben hat, ist ihr dennoch hoch anzurechnen. Sie knüpft mit ihrem Rückgriff auf regionale Geschehnisse an eine Traditionslinie der italienischen Literatur an, wie es Michela Murgia mit einem vitalisierenden Effekt in dem ebenfalls bei Wagenbach vorliegenden Roman "Accabadora" vor zehn Jahren tat. Aber im Unterschied zu Murgia, die sehr überzeugend mündliche Erzählformen variierte, bleibt Caminito die agrarische Welt doch fremd. Eines stellt Giulia Caminito in ihrem deutschen Debüt aber unter Beweis: Sie traut sich etwas. Vielleicht muss sie sich nur entscheiden, welche Geschichte sie wirklich erzählen will.

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 272 Seiten, 23 Euro.

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SZ vom 15.09.2020
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