Roman "Im Bereich der Nacht" neu editiert:Schreie, die nie verstummen

Lazarenische Literatur: Jean Cayrols vergessener, von Paul Celan übersetzter Roman "Im Bereich einer Nacht" ist das Zeugnis eines Lazarus, der von den Toten wiedergekehrt ist und dem Realität unwirklich erscheint. Der Holocaust-Überlebende verarbeitet darin die Verdunkelung seiner Persönlichkeit während der Deportation.

Ulrich Rüdenauer

Am Ende von Alain Resnais' Dokumentarfilm "Nacht und Nebel" aus dem Jahr 1955 sieht man zur Musik von Hanns Eisler farbige Bilder eines zerfallenden Konzentrationslagers. Im Kopf des Betrachters vermischen sie sich mit den historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Deportationen, Gaskammern, Leichenbergen, die zuvor gezeigt worden sind. Das Gras wächst über die Massengräber. Es wächst, sollen diese letzten Einstellungen sagen, hinweg über die Geschichte des größten Verbrechens der Menschheit.

Jews Deported

Nazi-Offiziere überwachen eine Deportation im Jahr 1941. Der Roman "Im Bereich einer Nacht" des Nazi-Überlebenden Jean Cayrol führt mitten hinein in das Schattenreich, in dem das Individuelle ausgelöscht wird.

(Foto: Getty Images)

Die Stimme aus dem Off spricht dazu die Zeilen eines Textes, der das Grauen protokolliert und zu einem Poem des nie vergehenden Schmerzes wird, zu einer Mahnung: "als glaubten wir wirklich, dass all das nur / einer Zeit und einem Lande angehört, / uns, die wir vorbeisehen an den Dingen neben uns / und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt."

Die Vorlage zu Resnais' berühmtem Werk stammt von dem hierzulande fast unbekannten oder zumindest vergessenen französischen Schriftsteller Jean Cayrol, die Übertragung von Paul Celan - beide Überlebende des Holocaust. Cayrol (1911-2005) war bei Ausbruch des Krieges Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes, schloss sich 1941 der Résistance an und wurde 1942 ins KZ Mauthausen verbracht, wo er nur unter sehr glücklichen Umständen überlebte.

In den fünfziger Jahren hatte er in Frankreich eine einflussreiche Position im Literaturbetrieb inne. Er erhielt für seine Romane und Lyrikbände renommierte Preise, arbeitete als Berater der Éditions du Seuil und entdeckte Autoren wie Philippe Sollers oder Roland Barthes.

Zudem darf man ihn zu den Wegbereitern des Nouveaux Roman zählen, Stilelemente, die später bei Alain Robbe-Grillet oder auch Claude Simon ausformuliert werden, sind bei Cayrol bereits angelegt. Im Walter-Verlag erschienen seinerzeit einige seiner Bücher auf Deutsch, "Der Umzug" oder "Der Fremdkörper".

Kaum erfahrbarer Erscheinungsraum

Auch sein Roman "Im Bereich einer Nacht" aus dem Jahr 1954 kam Anfang der sechziger Jahre in der Übersetzung von Paul Celan heraus, kaum rezipiert und rasch aus den Regalen verschwunden. Dass man ihn nun wieder lesen kann, verdankt sich dem Schöffling-Verlag, der sich an eine Neuausgabe wagt und nicht umsonst auf dem Cover des Buches neben dem Autor den weitaus berühmteren Übersetzer Paul Celan nennt.

Tatsächlich fanden hier zwei Dichter zueinander, die nicht nur einen kaum beschreibbaren Erfahrungsraum teilten, sondern auch in ihrer Sprache und Metaphorik einander ähnlich sind. Celan geht mit der Vorlage, wie Ursula Hennigfeld in ihrem instruktiven Nachwort ausführt, zudem sehr frei um, verwandelt sich den Text an, macht ihn sich zu eigen. Wo Cayrol ganz zu Beginn vom Nahen der Dämmerung schreibt - "l'approche du crépuscule" -, erzeugt Celan durch eine kleine Dramatisierung bereits einen unbehaglichen, auf das Kommende einstimmenden Ton: "Die Dämmerung rückte näher und fraß sich mehr und mehr in das Blau der Rauchfahnen."

"Im Bereich einer Nacht", das wird schon an diesen ersten Sätzen deutlich, verweist eben nicht nur auf eine zeitliche Dimension, sondern auf eine existentielle Dunkelheit, in deren Tiefen das vergangene Unbewältigte sich eingenistet hat. Sie umfängt den Menschen wie ein dicht gewobenes Netz, durch das man die Außenwelt nur noch schemenhaft erkennen kann. "War nicht alles von ihr zu gewärtigen, von dieser Nacht, die wie eine Faust auf alle Wesen und Dinge niederfuhr?"

Die Verdunkelung der Persönlichkeit

Die Hauptfigur von Cayrols Roman heißt François, er steht im bedeutungsschwangeren dreißigsten Jahr, und einen Tag vor seinem Geburtstag macht er sich von Paris aus auf die Reise zu seinem Vater, der in einem kleinen Dorf lebt. François beschließt, schon eine Station vor dem Zielbahnhof aus dem Zug zu steigen und die letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. Er will sich vorbereiten auf die Begegnung mit dem ungeliebten Übervater und "Überwitwer", von dem der Junge einst die Angst und vielleicht auch die Unfähigkeit zu wahren Beziehungen eingeimpft bekommen hat.

Die Mutter ist früh gestorben, und der Vater, wenn er vielleicht auch nicht im juristischen Sinne schuld ist an ihrem Tod, hat dieses Unglück doch für seine Zwecke ausgenutzt: "Vater hatte sie eingekerkert, eingesargt in einem unzugänglichen Kummer. Niemand durfte ihrer gedenken. Nur auf seinen Wink hin durften die Tränen fließen und die Seufzer laut werden. Er gehörte ihm und nur ihm allein, dieser Tod."

Der Fußweg führt François durch ein Waldgebiet, die Dämmerung bricht herein, und mit der Nacht kommen die Kindheitserinnerungen wieder, traumatische Episoden und Erlebnisse, Gedanken an das einzig Verbindende innerhalb der Familie - viele der Mitglieder haben Selbstmord verübt.

Auch François hat in seiner Jugend mehrmals versucht, sich umzubringen. Cayrol schafft eine Atmosphäre der Ausweglosigkeit - die Geschichte ist nicht hintergehbar, sie begleitet François auf Schritt und Tritt, und mit jedem Meter, den er vorankommt, gleitet er tiefer hinein in diesen Orkus. Zwischen den Schrecken der Vergangenheit und den Ungewissheiten der Gegenwart liegt ein undurchdringlicher, fast mythisch anmutender Wald, der verschluckt wird von der Nacht. Monströs sind die Bilder der Kindheit. Sie legen sich auf die Eindrücke des Jetzt.

Immer wieder wechselt Cayrol die Perspektive, lässt auch die in Paris zurückgelassene Verlobte Juliette und die tote Mutter zu Wort kommen und erzeugt so einen schwankenden Erzählboden. Über diesen zieht François dahin, um sein Ziel immer weiter zu verfehlen und doch unbewusst schnurstracks darauf zuzuwandern. Er verirrt sich, buchstäblich und in Gedanken, er begegnet Menschen, die sich auf seltsamste Weise verhalten, er erholt sich in einem Haus, in dem im Nebenzimmer die Leiche eines Mannes aufgebahrt ist. Seine Gastgeber streiten sich lautstark, er kommt nicht zur Ruhe. Und schließlich stellt sich heraus, dass der Tote nebenan, der Liebhaber seiner Gastgeberin, sein eigener Vater ist.

"Der Bereich einer Nacht" wird mehr und mehr zum Bereich der Toten, ein Landstrich, vermessen von der Ewigkeit und bevölkert von Geistern und Schattenwesen. Es hat etwas Surreales, manchmal wie in einem Jenseitstraum aus einem Buñuel-Film - grotesk und absurd, nicht mehr von dieser Welt, obwohl die gewöhnlichen Dinge und Alltäglichkeiten die Welt noch beherrschen.

Trügerische Rettungsringe

Es ist ein poetischer Text, der wie in einem Schauermärchen eine Figur an die Abgründe seiner Wahrnehmung, auf die andere Seite der Wirklichkeit führt. Alle Hoffnung, aus dem Albtraum zu erwachen, zerschlägt sich. Die ödipale Grundstruktur, die biblischen Anspielungen auf den verlorenen Sohn, das spätromantische Setting sind dabei für den Leser trügerische Rettungsringe, die einen in Wahrheit tiefer hineinziehen ins Undurchdringliche und Unauflösbare. Samuel Beckett hat dieses Grundgefühl noch weitergetrieben, auch in der Sprache. Aber bei Cayrol ist es bereits spürbar.

Ganz zu Recht weist Ursula Hennigfeld darauf hin, dass "Im Bereich einer Nacht" im Kontext der Literatur über die Schoah gelesen werden kann oder sogar muss. Seinen Zustand während der Deportation beschrieb Jean Cayrol mit den Worten "Nacht", "unmenschliche Dunkelheit" oder "Verdunkelung der Persönlichkeit". Sein Roman führt mitten hinein in dieses Schattenreich, in dem das Individuelle ausgelöscht wird. "Lazarenische Literatur" nennt Cayrol das: Es schreibt hier einer, der wie Lazarus von den Toten wiedergekehrt ist und dem die Realität unwirklich erscheint. Es ist eine Literatur - und die Übersetzung Paul Celans trägt nicht unwesentlich dazu bei -, die aus der Erfahrung der Lager Poesie entstehen lässt, keine erbauliche, keine zuversichtliche, keine hoffnungsstiftende.

Schreiben, sagte Cayrol einmal, heiße die Leere erschaffen, worin die furchtbare Tatsache, dass das Rettende fehlt, erkennbar wird. "Im Bereich einer Nacht" schafft die Dunkelheit nach, in der die Todgeweihten sich fortan durchs wiedergeschenkte Leben tasten mussten.

JEAN CAYROL: Im Bereich einer Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Paul Celan. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2011. 255 Seiten. 19,95 Euro.

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