Nein, er hat sich nicht die Kellertreppe hinabgestürzt, um das Wachstum einzustellen. Und er hat auch nicht die Schlegel gerührt, um den Untergang seiner Familie mit Trommelwirbeln zu begleiten. Und er verfügte schon gar nicht über die Fähigkeit, so hochfrequent zu kreischen, dass in der näheren Umgebung die Fensterscheiben zerspringen.
Regisseur Oskar Roehler über seine Kindheit: "Deine Mutter hatte recht! Sie hätte dich damals abtreiben sollen!"
(Foto: Getty Images)Doch wenn der Kinoregisseur Oskar Roehler seine Stimme erhebt in dem Buch, das er jetzt geschrieben hat, um sie erst sechshundert Seiten später wieder zu senken, so ist das ein einziger Aufschrei, der über drei Generationen und gut vierzig Jahre deutscher Geschichte hinwegträgt und von dieser Zeit nicht mehr als einen Scherbenhaufen übrig lässt.
Doch sollte man diesen wütenden Familienroman, der den apodiktischen Titel "Herkunft" trägt, nicht für eine Abrechnung mit der Hagiographie der Gruppe 47 vereinnahmen, wie es das konservative Feuilleton mit einiger Häme getan hat. Zu den Vorzügen des Buches gehört es gerade, dass Roehler das Private konsequent vom Politischen trennt. Dass der Nazi-Großvater deutlich besser wegkommt als die 68er-Eltern, hat mit menschlichen Eigenschaften zu tun, über die Vater und Mutter in ihrer Egomanie nicht verfügen.
Genauso wenig jedoch muss man sich darum in die sentimentale Emphase einer Jugendgeschichte hineinkuscheln, wie es die progressive Literaturkritik vorgemacht hat. Wenn einer 1959 geboren wurde, in dem Jahr, als Günter Grass' "Blechtrommel", das ratifizierte Hauptwerk der Nachkriegsliteratur, erschien, und er nach dessen Helden Oskar heißt, und wenn seine Eltern die Schriftsteller Gisela Elsner und Klaus Roehler, beide Mitglieder der Gruppe 47, sind, kann man ihn getrost als ideelles Kind des literarischen Deutschland bezeichnen, das sich in seinem Fall als Rabenvaterland erwies. Dabei ist es eine böse Pointe, dass Oskars Name ihn zeichnet als ungewollt, denn auch sein Namenspatron, Grass' Oskar Matzerath, war ein Unfall. "Deine Mutter hatte recht! Sie hätte dich damals abtreiben sollen!", sagt der Vater ihm, der im Roman Robert heißt, Jahre später, als aus dem ungeliebten Kind ein schwer erziehbares geworden ist.
Um zu verhindern, dass Robert zur Welt kommt, hat die selbstzerstörerische Gisela alias Nora nichts ausgelassen. Sie, die schon als Nürnberger Schulmädchen in der Kellerbar der elterlichen Villa regelmäßig abstürzt und sich später mit Kleopatraperücke und schwarzen Kajalbalken zur Ikone stilisiert, trinkt und raucht auch in der Schwangerschaft exzessiv. Das Kind hat sie ihrer Jugendliebe Rolf - hinter ihm verbirgt sich Klaus Roehler - untergeschoben. Robert ist das Ergebnis einer Bar-Bekanntschaft. Um das ungeborene Kind zu retten, stellt Rolf sie unter Quarantäne, schleift Nora in ein bayerisches Dorf, versteckt Alkohol, Zigaretten und spitze Gegenstände vor ihr, mit der Folge, dass Nora in den eiskalten Starnberger See geht, um das Kind zu verlieren. Als die Hebamme ihr nach der Entbindung das Baby zeigen will, guckt sie weg und sagt: "Schaffen Sie dieses Bündel fort, ich will damit nichts zu tun haben."
Kindheit als Martyrium
Damit beginnt für Robert eine Kindheit, die sich nur als Martyrium beschreiben lässt: Um die Familie durchzubringen, geht Rolf als Lektor nach Frankfurt. Tagsüber bleibt das Krabbelkind in der leeren Wohnung sich selbst überlassen. Von seiner Mutter sieht Robert nichts als die Nikotinschwaden, die durch den Schlitz der verschlossenen Tür dringen. Je lauter er weint, desto lauter hämmert Nora auf ihrer Schreibmaschine dagegen. Schriftstellerfreunde geben Erziehungstipps und raten, das Baby oben auf den Schrank zu setzen, wenn es zu laut schreit. Natürlich stürzt Robert dabei immer wieder herunter, doch wenn er zwischen Wand und Schrank feststeckt, empfindet Robert das Grauen als eine Art von Geborgenheit.
Wenn Rolf abends heimkommt, muss er seinen Sohn von den verschissenen Windeln befreien. Wund wie der Babypo ist dessen Seele. Einmal fordert der Vater Robert auf, zuzusehen, wie er Nora von hinten auf der neuen Siemens-Waschmaschine vögelt - ein Protest gegen das Geschenk der Schwiegereltern, dessen Gegenwert ihn der leidigen Erwerbspflicht für einige Zeit enthoben hätte. Als Nora bei einer Tagung der Gruppe 47 liest, kommt es zum Bruch. Rolf fällt mit seinem Text durch, Nora avanciert aus dem Stand zum neuen Fräuleinwunder der deutschen Literatur. Nach Hause kommt sie nur noch ein einziges Mal: um ihre Sachen abzuholen. Da ist Robert drei Jahre alt und wird fortan abgeschoben werden - vom Vater zu den Großeltern, von dort ins Internat.
"Herkunft" beginnt nicht erst mit der Geschichte von Nora und Rolf, die so zart, vorsichtig und tastend anfängt und damit endet, dass sich beide gegenseitig zerfleischen - die Amour fou seiner Eltern hat Roehler anhand ihrer Briefe und Tagebücher rekonstruiert. Der Roman setzt im Jahr 1949 ein, als der Großvater aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt und in einem Dorf in Unterfranken, wohin die Familie aus Thüringen ausgesiedelt worden ist, nach den Seinen sucht. Doch Erich ist nicht willkommen. Seine Frau lebt mittlerweile mit seiner Schwester Elli in einem eheähnlichen Verhältnis. Erich verbringt die ersten Nächte in Freiheit auf einer Parkbank gegenüber dem Haus, in dem seine Frau und seine Kinder wohnen. Er bezieht gleichsam Posten, und was folgt, ist Mahnwache und Belagerungszustand zugleich, ein ganz persönlicher kalter Krieg, bis Elli geht und das Wirtschaftswunder kommt. Die Familie bringt es mit der Herstellung von Gartenzwergen zu bescheidenem Wohlstand.
Er ist ja selbst ein Gartenzwerg", sagt Nora, als sie Rolf zum ersten Mal besucht. Als sie beginnt, an den Regalen zu rütteln, in denen Hunderte Gartenzwerge lagern, mit denen Erich symbolisch die verlorenen Armeen seines geliebten Führers wieder auffüllt, ist das nicht nur der Punkt, an dem die Liebe der Eltern ins Zerstörerische kippt, sondern auch ein Vorgriff auf die Studentenrevolte, in der beide - sie als schreibende Kommunistin, er als Kassenwart der RAF - kräftig mitmischen werden.