Roman "Ein sterbender Mann":Martin Walser schmort im eigenen Saft

Martin Walser - neues Buch: "Ein sterbender Mann"

Liebe und Tod - drunter tut es der Autor Marin Walser nicht. Und doch kreisen sie beide nur um das unverrückbare Zentrum seines Schreibens, den Mann.

(Foto: Karin Rocholl)

Der Autor zelebriert in seinem neuen Roman "Ein sterbender Mann" krudeste Männerfantasien. Autobiografie oder lustvolle Selbstdemontage?

Buchkritik von Helmut Böttiger

Einer der letzten rasend hervorgebrachten Romane von Martin Walser hieß "Ein liebender Mann"; das war 2008. Der aktuelle Roman nun heißt "Ein sterbender Mann". Darunter macht Walser es nicht. Liebend und sterbend, diese beiden die gesamte Emotionsskala halsbrecherisch rauf und runter schnellenden Adjektive sind dabei aber gar nicht das Wesentliche. Sie kreisen bloß um das unverrückbare Zentrum, nämlich den "Mann".

Der 1927 geborene Walser widmet sich seit einiger Zeit noch intensiver als sonst dem Phänomen der Virilität. Dass es sich letztlich um seine eigene handelt, macht er sich und seinen Lesern fragend, nachfragend, bohrend und schürfend ständig bewusst, und zwar in einem unerhört ekstatischen Akt des Schreibens.

Selbstredend steht in diesen Texten die komplexe Mann-Frau-Thematik immer im Vordergrund. Gleichzeitig aber holt Walser sämtliche verfügbaren philosophischen, theologischen, gesellschaftspolitischen Implikationen mit in die Sätze hinein. Im Schreiben konzentriert sich die ganze Lebens- und Welterschöpfungs-Gier - in weiten rhetorischen Schwüngen, in sinnlich anmutenden Nebensatz-Verwicklungen und Wortfindungs-Steigerungen. Mit "Ein sterbender Mann" scheint jetzt die letzte Stufe der das eigene Leben ausstellenden Schreibwut erreicht zu sein - natürlich denkt man bei diesem Titel sofort an den 88-jährigen Walser und seine geradezu Facebook-artig offensiven Selbstinszenierungen.

Es kümmert Walser nicht, dass schnell mal ein Ball herunterfallen kann

Walser, der manisch Belesene, weiß um die unvermeidlichen Fallen der Autobiografie. Deshalb sollte man den 72-jährigen Theo Schadt, der als Hauptfigur in seinem neuen Roman fungiert, nicht automatisch mit dem Autor gleichsetzen. Obwohl man schon bei dem skizzenhaft umrissenen Beruf hellhörig werden könnte: Schadt ist ein Unternehmer, der mit Erfindungen und Patenten handelt, einem Schriftsteller nicht ganz unähnlich.

Und gleich zu Beginn schreibt dieser Schadt auch einen Brief an einen "Schriftsteller", von dem man nicht weiß, in welcher Beziehung er zu ihm steht. Man ahnt, dass es eine Spiegelung von ihm ist, eine alte literarische Finte, genauso wie diejenige, dass der Erzähler je nach Lust und Laune zwischen der Ich- und der Er-Perspektive wechselt und zur Abwechslung aphoristische Sentenzen einstreut. Walser jongliert mit zwei, mit drei und plötzlich auch mit zunächst fünf Bällen, und es scheint ihn überhaupt nicht zu kümmern, dass da auch schnell mal einer herunterfallen kann.

Im Zentrum der Handlung steht ein Verrat. Theo Schadt hatte ursprünglich 44 Mitarbeiter in seiner Firma. Als sein engster Freund und Angestellter Theo Kroll dem großen Konkurrenten Oliver Schumm ein lukratives Geschäftsgeheimnis hinterbringt, muss er alle entlassen und in der Boutique seiner Frau in der Münchner Schellingstraße verschämt an der Ladenkasse sitzen. Das bildet den Dreh- und Angelpunkt des Romans.

Gürtel, Boleros, Netzstrümpfe, Tangotanzschuhe

Ein anderer Energiequell ist natürlich sexuell konnotiert, jedoch ins Übersinnliche gesteigert: Schadt stellt an der Kasse einem weiblichen Wesen eine Rechnung aus, und da überwältigt ihn ein Lichtstrahl, eine "grellste Helle". Sie heißt Sina und löst die Konvulsionen dieses Romans mindestens genauso stark aus wie der Verrat des einstmals besten Freundes. Dass diese beiden Kraftzentren im Verlauf der Handlung mehr miteinander zu tun haben, als es anfangs erscheint, ja, dass sie direkt aufeinander bezogen sind - das ist bewährtes, altes Romanhandwerk.

Schadts Frau Iris betreibt nicht irgendeinen x-beliebigen Laden, sondern es geht um exquisite Tango-Accessoires. Diverse Gürtel, Boleros, Netzstrümpfe und vor allem spezielle Tangotanzschuhe werden bildersatt beschworen, und dass der Wechsel von 8 cm hohen Stilettoabsätzen zu 9,5 cm hohen unweigerlich "Laute des reinen Entzückens" im Tangoladen hervorruft, ist einer der Gefühlskerne des Romans.

Todeswunsch: "irreversibel"

Walser lässt nichts aus. Er zelebriert krudeste Männerfantasien und spielt mit ihnen, er scheint überhaupt keine Scheu zu haben vor Kolportage, vor Klischees und der Nachmittag-Talkshows im Unterschichts-Fernsehen. Er mixt diese Bestandteile aber so unverfroren und zauberkunststückhaft und verbindet sie bruchlos mit letzten existenziellen Fragestellungen, dass man immer wieder frappiert ist.

Und wenn der Dampfkochtopf erst einmal richtig zischt, wenn die Betriebstemperatur am höchsten ist, dann kommen die Tod- und Selbstmord-Gedanken. Theo Schadt meldet sich, nachdem der "Verrat" ihm das Selbstwertgefühl geraubt hat, im Internet in einem Suizid-Forum an. Sofort bändelt er mit einer sich "Aster" nennenden Kandidatin an, deren Todeswunsch sie als "irreversibel" angibt.

Wie dieses Wörtchen anschließend durchdekliniert wird, wie vor dem Hintergrund von Gruft, Sinnlosigkeit und Kohlenmonoxid nun wilde Kapriolen zwischen Tragik und Komik geschlagen werden, das ist eine neue schaumkronenschlagende Variante des Walserschen Übertreibungs-und Überbordungs-Stils. Er nimmt die Rolle des Altersnarren an und gibt sie hemmungslos. Und in der spezifischen Verzweiflungsartistik, in die er seiner Figur Theo Schadt hineintreibt, bleibt von der Verzweiflung nur noch eine rhetorische Figur übrig, ein Ausdruck von Vergeblichkeit.

Kraftprotzende Monologe, deren Pointen um Wörter wie "Arsch" kreisen

Dass sich jene "Aster" und die "grellste Helle"-Frau im Ladengeschäft irgendwann vermengen, ist zwangsläufig wieder bewährtes, altes Romanhandwerk. Und dass manche Passagen direkt vom Stammtisch abgehört erscheinen, ebenfalls: Es gibt kraftprotzende Monologe, deren Pointen um Wörter wie "Arsch" kreisen. Der Autor Walser lässt selbst komplizierteste Realismustheorien souverän hinter sich, das Unwahrscheinlichste, das Fantastischste wie das Krudeste ist ihm gerade recht, und in der Summe von alldem verbirgt sich das Unerreichbare, die Literatur.

Auch Schlüsselromaneffekte haben Walser schon immer gereizt. Mit Inbrunst beschreibt er Münchens besondere Parvenü- und Adabei-Szene und legt ein grobmaschiges Netz von Anspielungen aus. Schwerreiche Kapitalisten, um die Frauen und Puppen tanzen, lassen den üblichen Illustrierten-Standard weit hinter sich, Theo Schadt und Martin Walser gehen da konsequent einen Schritt weiter. In dem Gedichte schreibenden Theo Kroll, dem Verräter, könnte man zudem einen in München unübersehbaren Vertreter des literarischen Milieus wiedererkennen: Das hier waltende "Poetische" karikiert Walser auf das Schmerzhafteste.

Die gefährlichste Lunte, die Walser in diesem Roman legt, verbirgt sich aber gleich am Anfang. Der Autor dankt "Thekla Chabbi" und deren "schöpferischer Mitwirkung". Diese Widmung ist automatisch ein Teil des Romans, in dem Leben und Schreiben programmatisch ineinander aufgelöst werden. Dass Thekla Chabbi wirklich existiert und im Internet als Hobby "Tangotanzen" angibt, ist ein eher harmloses Indiz. In den geheimen Kern von Walsers Ästhetik dringt man aber vielleicht vor, wenn man weiterliest, dass Thekla Chabbi einmal mit dem Schlagersänger Guildo Horn verheiratet war - Guildo Horn, der Deutschland so glamourös beim Eurovision Song Contest 1995 vertrat!

Ist Walser die schreibende Nussecke der deutschen Literaturgeschichte?

Es ergeben sich ungeahnte Kombinationen und Interpretationsmöglichkeiten. Einer der zentralen, mehrfach vorkommenden Helden in Walsers Werk heißt Franz Horn. Er verkörpert einen Lieblingstopos des Autors: den ewig zu kurz gekommenen Kleinbürger, der sich in seinem zwangsläufigen Scheitern lustvoll räkelt. Guildo Horn wiederum wurde als "singende Nussecke" berühmt.

Ist es womöglich eine der Obsessionen Martin Walsers, die deutsche Literaturgeschichte als schreibende Nussecke zu zieren? Auf jeden Fall wäre das aber nur ein Teil des Menüs, das süße Dessert. Beim Hauptgericht handelt es sich zweifellos um einen veritablen Sonntagsbraten, der in seinem eigenen Saft schmurgelt und schmort.

Martin Walser: "Ein sterbender Mann"

Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 288 Seiten, 19,95 Euro.

(Foto: Rowohlt Verlag)
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