Roman:Ein ehrenwertes Plaudertaschen-Haus

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Die Autorin Regina Scheer wurde für ihre DDR-Erinnerungsrecherche "Machandel" hoch gelobt. In ihrem Roman "Gott wohnt im Wedding" lässt sie nun ein Haus sprechen - ein Wagnis.

Von Maike Albath

Ein Haus spricht. Es räsoniert, plaudert, blickt zurück. Es handelt sich um eine der Berliner Mietskasernen mit Vorder- und Hinterhaus aus Mauern, in denen es knarzt und kracht. Die Dachbalken ächzen, der Putz rieselt von den Wänden, manchmal löst sich ein Ziegelstein. Mehr könne es nicht machen, klagt das Haus, um auf seine Altersschwäche hinzuweisen, niemand kümmere sich um die Instandhaltung. Es wurde 1890 im Arbeiterbezirk Wedding errichtet, und zwar an der Utrechter Straße, als auch hier die Spekulation mit Baugrund begann. Man stattete es mit Erkern, holländischen Kacheln im Eingang und einer Stuck-Medusa im Flur aus, nicht übermäßig elegant, aber solide. Das Haus ist Zeuge vieler historischer Wechselfälle, und es ist der Hauptschauplatz von Regina Scheers Roman "Gott wohnt im Wedding". Dem sprechenden Haus gehört nicht nur der Einstieg, auch in der Folge des über vierhundertseitigen Panoramas erhebt es in kursiv gedruckten Einschüben regelmäßig die Stimme und setzt Zäsuren. Seitenlang versorgt es uns mit Details zu den Bewohnern oder zur Lokalgeschichte, bis es am Ende von chinesischen Investoren gekauft und entmietet wird und, natürlich beabsichtigt, in Flammen aufgeht.

Ein Haus einfach so sprechen zu lassen, ist ein Wagnis. Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren und vor fünf Jahren für ihre dichte DDR-Erinnerungsrecherche "Machandel" hoch gelobt, verpasst ihrer steinernen Hauptfigur einen behäbigen Tonfall. "Die meisten denken, ein Haus sei nichts als Stein und Mörtel, totes Material. Aber sie vergessen, dass in meinen Wänden der Atem von all denen hängt, die hier gewohnt haben. Ihre Tränen, ihr Blut habe ich aufgesogen, ich habe ihre Schreie gehört, ihr Flüstern, ihr endloses Gemurmel in den Nächten. All ihr Leben habe ich in mich aufgenommen, durch sie lebe ich selbst, auf meine Weise." Diese Haltung entfaltet sofort etwas Betuliches. "Ich schweife ab, so ist das, wenn man alt ist", entschuldigt sich das Haus.

So tantenhaft der Roman beginnt, so konventionell geht es weiter. Aufbau, Erzählweise, Verknüpfung der Handlungsstränge, uns erwarten nur wenige Überraschungen. Dabei hätte es der Stoff durchaus in sich. Aber man kann sich die Zuspitzungen schon vorher ausmalen und ahnt jeden Wendepunkt.

"Etwas geht verloren, das kann der Beginn für etwas Neues sein."

Als Erster betritt Leo Lehmann das Parkett beziehungsweise den Hausflur, ein Ur-Berliner, der eine Erbschaftsangelegenheit seiner verstorbenen Frau regeln will. Der alte Mann ist gemeinsam mit seiner Enkelin aus Israel angereist, wo er nach dem Krieg einen Kibbuz mit aufgebaut hat. Kaum durchstreift er den Wedding, schlägt ihm seine Vergangenheit entgegen. Als Mitglied des jüdischen Jugendbundes Hebonim war er nach der Deportation seiner Eltern mit seinem besten Freund Manfred untergetaucht. Die sechs Jahre ältere Gertrud Romberg, die immer noch im Haus wohnt, hatte die beiden eine Weile lang versteckt. Dass ihr geliebter Manfred in ihrer Wohnung wegen eines eifersüchtigen Nazi-Verehrers verhaftet worden war, lässt ihr bis heute keine Ruhe. Und Leo hält Gertrud, mit der er erst ganz zum Schluss des Romans ein klärendes Gespräch führt, für eine Verräterin.

Die deutsch-jüdische Tragödie wird flankiert durch eine zweite Opfererzählung: die der Sinti und Roma. Eine weitere Hauptfigur wird eingeführt, eine junge Frau namens Laila, ebenfalls Mieterin in der Utrechter Straße, deren Großmutter, was sie nicht weiß, vor ihrer Verschleppung im selben Haus gewohnt hat. Das Schicksal von Lailas Familie ist ähnlich weit verzweigt wie das von Leo und seit Jahrzehnten von Verfolgung, Ermordung und Übergriffen gekennzeichnet. Die Autorin schlägt den Bogen bis in die Gegenwart. Fast ohne es zu wollen, ist Laila für die rumänischen Roma-Frauen im Haus zur Beraterin geworden, absolviert Behördengänge und Amtstermine, kümmert sich nebenbei um die alte Gertrud und lernt auch Leo und seine Enkelin kennen.

Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Perspektiven, die Figuren geraten abwechselnd in den Blick, ihre Geschichten überlagern und verweben sich. Auf der Gegenwartsebene gelingt das einigermaßen, aber die früheren Schicksale des Personals werden eher referiert, als erzählerisch durchdrungen. Es wimmelt von nachgeschobenen Erklärungen und Erläuterungen. Die Geschichte der Sinti während der NS-Zeit war gerade Gegenstand eines anderen, sehr markanten Romans: Ursula Krechel hatte sich in "Geisterbahn" (2018) diesem Sujet gewidmet und es ästhetisch vielfältig vermittelt, das Räderwerk des Nazi-Regimes und die gespenstische Aufgeräumtheit der Nachkriegszeit auf beklemmende Weise vergegenwärtigt. Im Vergleich dazu wirkt "Gott wohnt im Wedding" auch literarisch eher bescheiden. Die Handlung entfaltet nur selten soghafte Momente, die Sprache hat nichts Eigenes, die Symbolik ist platt - Laila, transgenerationell traumatisiert, erleidet Fehlgeburten. Dass sich am Ende dennoch vieles fügt und eine Rumänin ihr ein Kind überlässt, hat einen schalen Geschmack.

Auch für den Trick, die Handlungsfäden über ein Gebäude zusammenzuführen, gibt es schon ein geglücktes Beispiel. Jenny Erpenbeck hatte in ihrem Roman "Heimsuchung" (2008) das 20. Jahrhundert von einem Sommerhaus am Scharmützelsee ausgehend aufgefächert. Dem Haus selbst hatte sie wohlweislich das Wort verboten. Regina Scheer aber verfällt immer wieder in banale Küchentischphilosophie. "Vielleicht ist es ein Trost, dass immer, wenn etwas verschwindet, etwas anderes an seine Stelle tritt. Das habe ich so erfahren", lässt sie das Plaudertaschen-Haus beteuern. "Etwas geht verloren, das kann der Beginn für etwas Neues sein." Na, dann ist ja alles gut.

© SZ vom 26.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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