Süddeutsche Zeitung

Die besten zehn Sekunden meines Lebens:Ein paar Kilo Pech abspecken

Als Lehrer unsportliche Schüler noch "Schwachmaten" nannten, verpasste Chris, klein und dick, seine große Chance. Roger Schmelzers Roman "Die besten zehn Sekunden meines Lebens" trifft amüsant den Zeitgeist der 80er-Jahre-Provinz.

Christoph Haas

Auf dem Sommerfest soll es passieren: Endlich will der dicke Chris, unterstützt von seinen Kumpeln, der schönen Kathleen seine Liebe gestehen. Joker, bekannt als "der Unwiderstehliche", wird mit seinem Charme die Freundinnen der Angebeteten ablenken, Richie die passende Musik auflegen - hintereinander drei kuschelig-melancholische Songs der englischen New Wave-Band The Cure.

Als es dann aber soweit ist, geht alles furchtbar schief. Chris tut sich schwer, die richtigen Worte zu finden, und als er endlich in Fahrt kommt, wird der Austausch zarter Regungen jäh von rohen Klängen unterbrochen: Wütende Motorradjacken-Träger bemächtigen sich des DJ-Pultes und legen einen Kracher von Metallica auf.

Also der nächste Versuch: Als Kathleen am nächsten Tag als Kinderbetreuerin in ein entferntes Schullandheim aufbricht, trampt und wandert Chris ihr hinterher. Schweißüberströmt und fußkrank erreicht er schließlich sein Ziel, nur um zu erfahren, dass seine Traumfrau in der Nacht zuvor im Auto des Pastors beim Sex mit Stefan, dem lokalen Leiter der katholischen Jugendarbeit, erwischt worden ist.

Schlimmer noch: Chris begreift, dass er Kathleen geradezu in die Arme seines verhassten Konkurrenten getrieben hat. So sensibel hat er von sich am Lagerfeuer gesprochen, so aufmerksam hat sie ihm gelauscht - und in seinen Worten, besser als sie gekonnt hätte, ihre Gefühle für den anderen formuliert gefunden.

Das Pech klebt an Chris wie seine überflüssigen Pfunde; so sehr er sich Mühe gibt, los wird er beides nicht. Dass die Leiden dieses Knaben dennoch amüsant zu lesen sind, hat zwei Gründe. Einerseits gestattet es Roger Schmelzer seinem Ich-Erzähler nicht, ein Jammerlappen zu sein. Chris ist witzig und rhetorisch geschickt, und sei es nur darin, die Umwelt auf seine Kosten zum Lachen zu bringen. Andererseits fängt der Roman des 1966 geborenen Autors in zahlreichen Details treffend den Zeitgeist der deutschen Provinz in den frühen Achtzigern ein.

Ausdrücke wie "Schwachmaten" - Lehrerdeutsch für "unsportliche Schüler" - und "Wichsgriffel" - Jungsausdruck für "Hände" - tauchen auf; die Augen von Grünen-Aktivisten leuchten missionarisch; und Stefan gibt mit Wildlederjacke und runder Nickelbrille das John Lennon-Double in der Phase "Nach Sergeant Pepper aber bevor die Schlampe Yoko alles kaputt gemacht hat".

Bei der Schilderung einer Jugend bleibt es in "Die besten zehn Sekunden meines Lebens" indes nicht. Nachdem Chris durch eine weitere verunglückte Aktion Kathleen endgültig verloren hat, springt der Roman ins Köln des Jahres 2003.

Chris, inzwischen als Comedy-Autor fürs Privatfernsehen tätig, plant eine Serie, in der er seine Beziehungskatastrophen verarbeiten will. Wie die Idee, etwas Anspruchsvolles zu machen, am Starren auf die Quote, an den Capricen von Stars und Managern zuschanden geht, wie aus "Ratgeber: Liebe" schließlich "Knutsch, Knutsch - die voll konkret krasse Comedy mit Küss" wird - das wird sehr bissig geschildert.

Hier hat Roger Schmelzer, der als Texter für "Anke" und "Switch" arbeitet, sich offenbar eigene frustrierende Erfahrungen von der Leber geschrieben. Diese Mediensatire ist jedoch nur ein Zwischenspiel. Zu Beginn des letzten Drittels wechselt der Roman ins Phantastische.

Das männliche Moppel-Ich

Chris geht eines Abends nach einigen Bieren zu Bett und wacht am nächsten Morgen in seinem westfälischen Jugendzimmer auf. Die Zeit ist zurückgelaufen, er ist 16, und auch die Wampe, die er sich als Erwachsener mühsam abtrainiert hat, schwabbelt wieder munter. Chris ist zunächst desorientiert, begreift dann aber, dass er unverhofft eine zweite Chance bekommen hat. Alle Fehler, die er gemacht hat, will er nun gründlich vermeiden, um Kathleen, die er nie vergessen konnte, doch noch für sich zu gewinnen.

Auch der Leser erlebt hier ein Déja Vu. Dass der Autor in seiner Erzählweise stark vom Film beeinflusst ist, zeigt sich an mehreren Stellen des Romans. Für Zeitreise und Körperwechsel lassen sich leicht Vorbilder in Hollywood-Komödien der letzten 25 Jahre benennen: von "Zurück in die Zukunft" (1985) und "Peggy Sue hat geheiratet" (1986) "30 über Nacht" (2004). Dass Schmelzer dieses Erfolgsrezept des Kinos getreu in die Literatur zu übertragen versucht, kann ihm als Mangel an Originalität vorwerfen.

Man muss es aber nicht - eher kann man seinen Spaß daran haben, wie mit immer neuen Plot-Twists die Spannung aufrecht erhalten wird. Kunst können andere, Schmelzer kann unterhalten. Zu all den Moppel- und Mondscheintarif-Büchern ist "Die besten zehn Sekunden meines Lebens" ein respektables Pendant aus männlicher Perspektive.

ROGER SCHMELZER: Die besten zehn Sekunden meines Lebens. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2009. 379 Seiten, 14,95 Euro.

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SZ vom 09.07.2010/rus
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