Roman "Der USB-Stick":Die Lücke im Kalender

Der große belgische Erzähler Jean-Philippe Toussaint verwickelt einen Zukunftsforscher in dreckige Deals mit Cyberkriminellen - und seine Leser in ein Spiel mit Leerstellen.

Von Alex Rühle

Die Zukunft kennt ja keiner. Weshalb man sie, je nach Lebenslaune und -situation, als vielversprechend schimmernden Möglichkeitsraum sehen kann, als endlos öden Korridor des Weiterwurstelns, oder, wie Jean Detrez, nur noch ex negativo: "Ich hatte das Gefühl, gar keine eigene Zukunft mehr zu besitzen."

Ironischerweise ist dieser Jean Detrez Zukunftsforscher, genauer gesagt leitet er bei der Europäischen Kommission in Brüssel eine Abteilung für strategische Zukunftsforschung, die das Potenzial und die Risiken von Blockchains und Bitcoins ermitteln soll. Nach einem seiner Vorträge nehmen drei Lobbyisten mit ihm Kontakt auf, deren gefährliche Halbwelt-Aura schon aus ihren Namen herauszuklingen scheint: John Stavropoulos, Dragan Kucka, Yolanda Paul, allesamt Mitarbeiter der bulgarischen XO-BR Consulting. Sie wollen eine europäische Blockchain auf die Beine stellen, außerdem munkeln sie von der Möglichkeit, Detrez mit chinesischen Konstrukteuren in Kontakt zu bringen, die angeblich an einem extrem leistungsstarken Computer arbeiten, dem Alpha Miner 88, der sich hervorragend zur Produktion von Bitcoins eignet.

Detrez trifft sich immer wieder mit den drei undurchsichtigen Informanten, angefixt von dieser halblegalen Mischung aus Geraune und Kompetenz, außerdem beunruhigt vom Gefühl, Europa werde von China auf dem Gebiet der Blockchain-Technologie ein für alle Mal abgehängt. Bei einem der Treffen verliert Stavropoulos einen USB-Stick, den Detrez einsteckt, womit er einem großen Betrugsplan auf die Spur kommt: Seine seltsamen Lobbyisten wollen mit EU-Geldern Bitcoin-Mining im großen Stil betreiben, mithilfe des neuen chinesischen Rechners, der wiederum über eine Backdoor verfügt, was ein Betrug im Betrug wäre, könnte er doch von China aus gesteuert werden. Man kann das alles verraten, weil der Roman selbst es bald enthüllt.

"Eine Leerstelle, ja, wenn ich daran zurückdenke, beginnt es mit einer Leerstelle."

Es beginnt also wie ein Noir: Ein dreckiger Deal. Ein Ich-Erzähler in der Midlife-Crisis, desillusioniert, zweimal geschieden, verloren im Lebenslabyrinth (Detrez klingt auf französisch wie détresse, also Not), der aber unbedingt versucht, ein moralisch integres Leben zu führen. Schnauzbärtige Ganoven in beigen Gabardinemänteln und eine "hübsche junge Frau im Trenchcoat, mit Schal und Sonnenbrille", die Detrez selbstverständlich schon beim ersten Zweiertreffen erotische Avancen macht. Spätestens da fragt man sich, warum dieser extrem korrekte, zurückhaltende Beamte - er selbst nennt das ganze Buch über nie seinen Namen - den drei so offensichtlich schmierigen Zwischenhändlern immer weiter ins Halbdunkel folgt. Ja, er lässt sich sogar dazu überreden, nach China zu fliegen, um sich mit dem Konstrukteur des Alpha Miner zu treffen. Da er eh in Japan einen Vortrag halten muss, legt er einen Zwischenstopp in Dalian ein, von dem niemand weiß, eine Leerstelle im sonst so durchgetakteten Alltag.

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Toussaints Held legt in der Hafenstadt Dalian einen Zwischenstopp ein, von dem niemand weiß.

(Foto: imago images / Xinhua)

Der Roman beginnt mit diesem Trip beziehungsweise der inoffiziellen Lücke in seinem Terminkalender. "Eine Leerstelle, ja, wenn ich daran zurückdenke, beginnt es mit einer Leerstelle." Das ist natürlich gleich ein Leckerbissen für alle Hermeneutikgourmets. Ein Roman, der mit Nichts anfängt! Teufel auch. Und dann noch von Jean-Philippe Toussaint, diesem großen belgischen Erzähler, der aus seinen Texten so gern dichte, lustvolle Verweissysteme webt. "M.M.M.M." etwa ist eine raffinierte Roman-Tetralogie, in der ein Erzähler sein Objekt der Begierde immer neu, immer anders verfehlt, ersehnt, missversteht, eine erotische Spurensuche voller Lücken, Umwege und Rätsel. Auch da ist die ganze Welt ein Spiegellabyrinth, durch das man sich aber voller Spannung und Vergnügen liest. Außerdem ist Jean-Philippe Toussaint einer der großen Reisenden der Weltliteratur, in Frankreich erschien 2017 "Made in China", ein sehr schönes, weltgesättigtes Buch über das Schreiben, den Zufall und die Fremde.

Hier hingegen wirkt alles bald schon überfrachtet, künstlich, angelesen. Auf eine fünfseitige Erklärung, was es mit der Zukunftsforschung auf sich habe, folgen Ausführungen über Wesen und Gefahren der Blockchain-Technologie, nicht raffiniert eingewoben, sondern fast schon wie eine Wikipediadozentur. In China erwartet einen nicht die Fremde, vielmehr erwarten einen Exkurse, die klingen, als seien sie aus besorgten hiesigen Wirtschaftsessays unserer Tage kompiliert: "Eine solche Dynamik ist nur denkbar, weil es in China nicht diese hyperverbindlichen Reglementierungen gibt, die wir in Europa mit großem Stolz hochhalten. Vielleicht muss man darin einen strukturellen Fehler Europas erkennen, aber es ist eine Tatsache, dass wir uns ständig ausbremsen und uns Fesseln anlegen, aus Respekt gegenüber geltenden Normen des Umweltschutzes, wegen unserer Moral, unserer Ethik, unseres humanistischen Ideals, das wir der Welt demonstrieren."

Roman "Der USB-Stick": Jean-Philippe Toussaint: Der USB-Stick. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2020. 192 Seiten, 22 Euro.

Jean-Philippe Toussaint: Der USB-Stick. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2020. 192 Seiten, 22 Euro.

Detrez macht dem Klang seines Namens zu dem Zeitpunkt längst alle Ehre, er gerät tatsächlich in Not, als ihm sein Rechner auf einer Toilette in China geklaut wird, der Rechner, auf dem sein ganzes Leben liegt - so wie der Vortrag, den er in Japan halten soll. Weshalb er dann auf offener Bühne totalen Schiffbruch erleidet, stammelt, schließlich schweigt und - ja richtig, Schweigen, da haben wir nach der Zukunft und den kaputten Ehen eine weitere Leerstelle. Direkt gefolgt von der größten, der endgültigen Leerstelle: Direkt nach dem gescheiterten Vortrag erfährt Detrez, sein Vater liege im Sterben. Die ganze Blockchain-Geschichte ist da schon vergessen, das Buch wird auf den letzten Seiten zu einer Art plötzlichem Lebensresümee, einer kaum verkleideten Hommage an Toussaints eigenen Vater, Yvon Toussaint, einen Brüsseler Journalisten und Krimiautoren, der 2013 gestorben ist. Der Schmerz aber über dessen Tod, die Ergriffenheit und Verwirrung, können auch wieder nur als Leerstelle empfunden und formuliert werden, "ich konnte diese Gefühle nur von außen beobachten, und in dieser Nuance, in dieser winzigen Unterscheidung, erkannte ich eine Konstante meines Wesens, eine Steifheit, eine Ungerührtheit und eine Schwierigkeit, meine Gefühle auszudrücken, die ich schon immer hatte". Als Leser fühlt man sich leider ähnlich außen vor gelassen, und so bleibt am Ende doch eine unbefriedigende Leere zurück.

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