Roman "Das rote Fahrrad":Gott hat nicht aufgepasst

Das Tagebuch der Éva Zsolt, die im Alter von dreizehn Jahren in Auschwitz umgebracht wurde, wird häufig mit den Aufzeichnungen Anne Franks verglichen. Der neue Wiener Nischenverlag hat es nun unter dem Titel "Das rote Fahrrad" wieder herausgebracht. Es ist eine Erzählung voller Hoffnung, welche am Ende bitter enttäuscht wird.

Cathrin Kahlweit

In dem Film "Schindlers Liste" geistert durch gespenstische Schwarzweißaufnahmen von der gewaltsamen Räumung des Krakauer Ghettos ein kleines Mädchen, es trägt einen roten Mantel. Immer wieder taucht es auf, es leuchtet scheinbar in der Dunkelheit. Ob das Rot ein Hoffnungsschimmer in all der Verzweiflung sei, wurde Regisseur Steven Spielberg damals gefragt, und er sagte: "Nein. Es gab keine Hoffnung." In seinen Augen sei es die größte Tragödie der vergangenen Jahrzehnte, dass die Welt nichts aus dem Holocaust gelernt habe.

Die Farbe Rot als Symbol nicht der Hoffnung, sondern der Trauer, des Untergangs hat auch Zsóka Lendvai gewählt für das erste Buch, das in ihrem neuen Wiener Verlag erschienen ist. Nischenverlag heißt das Projekt, das unbekannte oder vergessene Bücher ungarischer Autoren in deutscher Übersetzung anbieten will, "Das rote Fahrrad" ist der Titel ihrer ersten Neuerscheinung. Es ist das Tagebuch des 13-jährigen ungarischen Mädchens Éva aus dem siebenbürgischen Várad, ein Buch, das von der Kritik nach seiner ursprünglichen Drucklegung in Ungarn 1947 immer wieder mit den Aufzeichnungen von Anne Frank verglichen wurde.

Tatsächlich gehen aber nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch die jetzigen Verleger davon aus, dass es sich wohl in Wahrheit entweder um einen Text handelt, den die Mutter des Mädchens, die Journalistin Ágnes Zsolt, Jahre vor ihrem Selbstmord in den Fünfzigerjahren entweder selbst geschrieben oder aber - eine Fassung ihrer in Auschwitz umgekommenen Tochter Éva benutzend - zumindest überarbeitet und postum veröffentlicht hat. Das Buch erschien in Ungarn vor einem halben Jahrhundert unter dem Autorennamen der Mutter und trug die Tochter im Titel: "Éva lanyom" (Meine Tochter Éva) hieß es damals schlicht.

Der Familie entrissen

Das große Verdienst von Zsóka Lendvai und ihrem Mann Paul ist es nun, dieses kleine, unsagbar traurige Werk wieder ausgegraben zu haben. Ein rotes Fahrrad auf nassem, grauem Grund ist auf dem Umschlag zu sehen - denn das heißgeliebte Fahrrad, das ihr die Nazi-Schergen samt der Freiheit nahmen, ist auch die Metapher für das Schicksal Évas und der gesamten Familie Zsolt, das hier erzählt wird.

Das Drama, das sie entzweite, auseinanderriss und schließlich für immer trennte, spiegelt sich in der Entstehungsgeschichte des Buches wieder: Mutter Ágnes hatte, um bei ihrem zweiten Ehemann, einem berühmten Publizisten, sein und in Budapest arbeiten zu können, die Tochter aus erster Ehe in Siebenbürgen bei den Großeltern gelassen und besuchte sie unregelmäßig.

Später, als die Deutschen einmarschierten und das vom Horthy-Regime schon auftragsgemäß begonnene Morden vollendeten, wurde Éva nach Auschwitz deportiert, Mutter und Ehemann konnten sich retten. Ágnes Zsolt hat sich das nie verziehen, ihr Suizid 1951 setzte ihren Selbstvorwürfen ein Ende.

Die Angst schleicht sich in alle Ritzen

Vorher also schrieb sie das Tagebuch um oder vervollständigte es - denn offenbar gab es tatsächlich ein handgeschriebenes Buch von Éva; das bestätigte eine frühere Zugehfrau, die angab, Éva habe ihr das Papier in die Hand gedrückt, bevor die SS kam und sie abholte. So oder so, die unklare Autorenschaft nimmt dem Text nichts von seiner Wucht.

Die Aufzeichnungen beginnen im Februar 1944 und enden im Mai, drei kurze Monate werden gespiegelt und mit ihnen die ganze Verzweiflung, die sich in die große, einstmals wohlhabende Familie eingräbt. Wie eine Schlinge, die sich zuzieht. Das Wichtigste sei doch, dass alle am Leben blieben, schreibt Éva in ihr Tagebuch, das ist die Hoffnung, die alles ertragen lässt: den Abtransport der Nachbarstochter Marta. Die Übernahme der Apotheke des Großvaters durch Fremde. Die ersten Gerüchte von Krematorien. Die Enteignungen und Grausamkeiten, die wachsende Armut.

"Lieber Gott, es ist doch Zufall, nicht wahr, du hast nur gerade nicht aufgepasst, als Marta umgebracht wurde. Aber jetzt wachst du über uns. Bitte!", heißt es da, aber da wacht niemand, da passt kein Gott auf. Éva beschließt, Fotoreporterin zu werden und einen britischen Arier zu heiraten; das, glaubt sie, werde ihr eine schöne, eine sichere Zukunft bescheren, wenn nur erst dieser vermaledeite Krieg zu Ende ist. Man werde sie nicht holen, sie seien doch Ungarn, glaubt sie, der Großvater sei so beliebt in der Gemeinde, die Mutter keine echte Sozialistin, der Stiefvater berühmt - doch die Hoffnung schwindet. Die Großmutter wird wahnsinnig, die Mutter weint nur noch. Jeder weiß, was kommt - und wartet. Wohin auch gehen? Wie gehen?

Die Familie wird ins Ghetto transportiert, täglich werden Nachbarn abgeholt und kehren, entstellt von Schlägen, anfangs sogar noch zurück aus den Verhörkellern der SS, wo die Verlorenen gestehen sollen, dass sie noch etwas besitzen, Gold oder Juwelen. Es gibt kein Essen mehr, kein Wasser. Auf den ersten Transporten nach Polen säßen die Entwurzelten wie Vieh, schreibt Éva, wie Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank . . .

Das Tagebuch ist ein Kleinod, weil es in kindlichem Duktus, aber mit scharfsinnigen und humorvollen Details zeigt, wie die Angst zunehmend den Alltag, den Familienkleinkrieg, die Sehnsucht nach der Mutter, die latente Eifersucht auf den Stiefvater, die erste Liebe überlagert. Und ein Leben abwürgt, schon lange vor dem Ende. Die Verlegerin Zsóka Lendvai hat sich und ihrem Mann, dem gebürtigen Ungarn und renommierten Wiener Publizisten Paul Lendvai, mit dieser Publikation einen Herzenswunsch erfüllt. Sie leitet den Verlag, er sei das "Beiboot", wie er lächelnd sagt, doch beide gemeinsam entschieden sich für "Das rote Fahrrad" als erstes Werk im Nischenverlag.

Lendvai wurde als ungarischer Jude selbst 1944 von den Nazis verfolgt, seine Familie kam im Holocaust um. "Das Buch ist eine zutiefst menschliche Geschichte", sagt er. Folgen sollen nun ein Roman über den Ungarn-Aufstand 1956 und Erzählungen von zeitgenössischen ungarischen Schriftstellern, die im deutschen Sprachraum bisher kaum eine Chance hatten.

Ágnes Zsolt: Das rote Fahrrad. Tagebuch. Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner. Nischenverlag, Wien 2012. 160 Seiten, 19,80 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: