Roman "Das Leuchten in der Ferne":Mitten im Schrecken

Bosnien, Kolumbien, Irak: Kriegsreporter Moritz Martens geht dahin, wo andere Leute nicht hingehen. In Afghanistan glaubt er an die Faszination der Subjektivität, an das Erleben - und wird Geisel der Taliban. Der spannende Roman von Linus Reichlin zeigt, dass objektiv nur der sein kann, der unbehelligt bleibt.

Von Hilmar Klute

Ein Journalistenleben kann elend, zumindest aber unfassbar trist enden, wenn man jenseits der fünfzig ist und die großen Aufträge an die Jüngeren mit den cooleren Themen gehen. Dass die Menschen den Bildern im Internet und im Fernsehen mehr vertrauen als der Magie der Sprache, kommt depressionsfördernd hinzu. Moritz Martens führt in Linus Reichlins neuem Roman "Das Leuchten in der Ferne" so ein im Stadium der ausklingenden Beachtung angelangtes Journalistenleben.

Martens war über viele Jahre hinweg Kriegsberichterstatter, er hat sich in Ruanda von jungen Hutu-Burschen schildern lassen, wie anstrengend es ist, jeden Tag eine Handvoll Menschen umzubringen; Irak, Bosnien, Kolumbien - Martens reiste dorthin, wo die anderen nicht hingingen, und was er aufschrieb, waren Geschichten, welche die Wirklichkeit des Krieges in ihrer Vertracktheit und Perfidie schilderten. Zum Beispiel Martens Reportage über einen deutschen Soldaten in Afghanistan, der nach seiner Entlassung aus dem Dienst an den Verhältnissen krank wurde - nicht an den Verhältnissen am Hindukusch, sondern an denen in seinem Häuschen in Rankwitz, wo es um Belanglosigkeiten des Alltags ging und nicht um Leben und Tod, wie der Soldat es braucht.

Eine Geschichte für 10.000 Euro

Linus Reichlin hat einen Roman über einen Reporter geschrieben, der an die Subjektivität glaubt, an das Erleben, und dem das Distanz-Getue der Journalismus-Schulen gegen den Strich geht. Martens will in den Schrecken, die er beschreibt, aufgehen, es soll ihm etwas geschehen, wenn er das Geschehen beschreibt. Auf dem Bürgeramt in Berlin gibt Moritz Martens einer jungen Mutter, Miriam Khalili, seine Wartemarke, damit sie mit ihrem Sohn schneller an die Reihe kommt. Es entwickelt sich ein Gespräch, Miriam lädt Martens zu sich ein und erzählt ihm von einer Bacha Posh, einem Mädchen, das in den afghanischen Bergen mit einer Meute Taliban umherzieht und sich als Junge ausgibt. Für ein Interview verlange das Mädchen 10.000 Euro, Martens trifft noch in der Nacht den Chefredakteur seines Blattes und verkauft ihm - dass so etwas heute noch so einfach geht bei der Summe - die Geschichte.

Martens fährt mit Miriam nach Afghanistan, in die Provinz Badakhshan, wo er das Mädchen treffen soll. Miriam begleitet ihn, sie will die Fotografien zur Reportage machen; aber im Laufe der Reise mehren sich Martens Zweifel an der Professionalität seiner Begleiterin. Miriam besitzt überhaupt keine Kamera, und mit der Zeit stellt sich heraus, dass ihre Mission in dem von deutschen Soldaten kontrollierten Gebiet eine andere ist: Sie will mit Martens Hilfe ihren Ex-Mann, den Vater ihres Sohnes, aus den Händen der Taliban befreien.

Die Übergabe gelingt, aber Martens wird selbst zur Geisel der afghanischen Kämpfertruppe; während der Flucht durch die Berge wird er Teil der hierarchischen Männerwelt und erlebt, wie sich innerhalb des Bündnisses Stärke und Führungskraft abnutzen und wie mühsam es ist, die Würde der Tradition, die angeblich nicht verhandelbare Religiosität gegen die Wirklichkeit zu verteidigen.

Reportagereisen als Fluchtbewegungen

Ein paar aufgeregte Stimmchen haben Linus Reichlin zum Vorwurf gemacht, dass er selbst nicht in Afghanistan war und folglich unrechtmäßig Wirklichkeit suggeriere. Das ist, mit Verlaub, ziemlicher Blödsinn, denn es geht in diesem - gekonnt gebauten und spannenden - Roman ja gerade um den elenden Kampf mit dem, was im Journalismus als Wirklichkeitserfahrung verkauft wird und deshalb auf Teufel komm raus beides leisten muss: einerseits den Schrecken erfahrbar machen, zum anderen die Distanz zum Schrecken wahren. Ein Spiel, das Martens nicht mitmacht: "Er hatte sich seinem Entsetzen gestellt und sich nicht auf seine Position als neutraler Beobachter zurückgezogen."

Denn neutral kann, das ist Reichlins bittere und zugleich tröstliche Moral, kann nur einer sein, den das Leben weitgehend unbehelligt ließ. Moritz Martens ist das nicht. Er nimmt sein beschädigtes Leben mit in ein zerstörtes Land. Sein Schuldgefühl gegenüber seiner Tochter Nives zum Beispiel, um die er sich kaum gekümmert hat und die nun mit distanzierter Sympathie für den Vater als Juristin in Zürich für Ernst&Young arbeitet.

Und dann die Beziehung mit Nina, die für einen Lebensmittelkonzern arbeitet und die mit der unpraktischen, resignativen Art von Martens wenig anzufangen weiß. Linus Reichlin ist übrigens klug genug, nicht der Versuchung zu erliegen, Nina als glatt gestrichene Karriere-Tusse zu zeichnen. Er beschreibt sie als eine Frau, die sich weniger Illusionen vom Leben macht als Moritz. "Du bist Journalist, du lebst von der Übertreibung. Ich von der Untertreibung", sagt sie einmal.

Aus dem Schreibformalismus ausbrechen

Spätestens als Moritz Martens mit den Kriegern der Taliban durch die Berge Badakhshans zieht, weiß er, dass er ein Teil dieses Kriegerhaufens ist. Er hat zugesehen, wie Menschen andere Menschen töten, und vielleicht, er weiß es nicht sicher, hat er während eines Afghanistan-Aufenthaltes einige Jahre zuvor in Quatliam auch eine Frau getötet.

Und er weiß, dass seine Reportagereisen Fluchtbewegungen sind: Er kann dem zivilen Leben nur vergleichsweise primitive Vorzüge abgewinnen. Nicht die Erinnerung an das Glück mit einer Frau oder einem Kind stärkt ihn in den bitteren Momenten der Geiselhaft, sondern die Beschwörung kulinarischer Sensationen, Geschmackserlebnisse mit Kombinationen von erlesenem Käse, Süßem, Wein und Zigaretten; die immer wieder vergegenwärtigten Rilke-Gedichte lassen ahnen, dass hier einer aus seinem Schreibformalismus ausbrechen will und sich nach einer anderen Sprache sehnt.

"Das Leuchten in der Ferne" lässt gelegentlich an Nicolas Borns Roman "Die Fälschung" denken, der Geschichte des Reporters Laschen, der Mitte der Siebzigerjahre in den vom Bürgerkrieg zerstörten Libanon reist und seinen Auftrag verflucht, die Leser mit täglich frischen Ereignissen zu versorgen. Laschen möchte wie Martens, Teil des Geschehens sein, er möchte aber, seinerseits deutlich entseelter als Reichlins Protagonist, auch im Krieg verwundet werden, möglicherweise sogar sterben, um den höchsten Grad an Teilhabe zu erreichen. Beide Texte erzählen von den zivilisatorischen Brüchen ihrer jeweiligen Epochen, Borns Roman von den kaum überschaubaren Stellvertreterkriegen der Siebziger, Reichlins Buch vom Scheitern der militärischen Friedenseinsätze des Westens.

Die Schwächen des Romans treten dort zutage, wo Reichlin die Fadheit des übersatten Westens allzu holzschnittartig mit der Armut in Entwicklungsländern abgleicht - natürlich gibt es hierzulande alles und zu viel von allem. Zivilisation gegen Barbarei, das ist die Schieflage der Welt, man muss das nicht mehr explizit beklagen.

Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne. Roman. Verlag Galiani, Berlin 2013. 320 S., 19,99 Euro.

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