Roman:Auf Flugsand gebaut

Weltgeschichte in Prenzlauer Berg: Torsten Schulz' Roman "Skandinavisches Viertel" erzählt vom Makler Matthias, seinem Wurzelgrund in einem Ostberliner Viertel und wie er scheitert, die Immobilienentwicklung an diesem Ort zu steuern.

Von Gustav Seibt

Jeder kennt die Bornholmer Straße. Von dort ging in der Nacht des 9. Novembers 1989 die große Berliner Straßenparty aus, die die Welt veränderte und schon bald auch den dahinter gelegenen Bezirk Prenzlauer Berg. Längst ist der ehemalige Grenzpunkt mit seiner schicken S-Bahn-Station aus den Zwanziger Jahren ein deutscher Gedächtnisort, an dem man sich zu den runden Jubiläen des Mauerfalls voller Rührung trifft. Noch leben ja die Menschen noch, die damals in die Kameras schluchzten: "Wahnsinn", "Geschichte live".

Roman: Torsten Schulz: Skandinavisches Viertel. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 265 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Torsten Schulz: Skandinavisches Viertel. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 265 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Von der Bornholmer rechts ab (vom Westen aus gesehen) biegt man in die Malmöer Straße, weiter vorn links in die Gotlandstraße. Die Bornholmer selbst wird schon bald zur Wisbyer Straße, unweit bekommen die Dänen mit ihrer Hauptstadt Kopenhagen, in der anderen Richtung die Ostsee-Insel Schonen und das mythische Vineta ihre eigenen Orte im Stadtplan. Diese skandinavische Welt, die sich ein Stadtplaner kurz vor dem Ersten Weltkrieg im damaligen Neubaugebiet um den Arnim-Platz einfallen ließ, ist nicht ganz geschlossen. Denn auch märkische Kleinstädte wie Seelow, Rhinow, Driesen oder Schönfließ bekamen ihre Auftritte.

Aber das stört Matthias Weber, den kindlichen Helden des Roman "Skandinavisches Viertel" von Torsten Schulz nicht. Im Geiste benennt er die nicht-nordischen Straßen des Kiezes um, indem er ein paar entferntere, Ostseesalz mitführende Namen einfach verpflanzt. In seinem Kopf wird nun alles hier skandinavisch: Die Seelower wird zur Göteborger, die Driesener zur Tromsöer Straße. Gut, dass das Vorsatzblatt des Buchs diese Fantasiekarte zeigt, denn selbst mit dem originalen Stadtplan bestens vertraute Leser (wie der Rezensent, der hier 15 Jahre gewohnt hat) könnten sonst durcheinander kommen.

Matthias kam 1966 auf die Welt, fünf Jahre nach dem Mauerbau. Er wohnt mit seinen Eltern in der Pankower Mühlenstraße, aber seine Oma und sein Onkel Winfried leben in der Malmöer, ganz nah an Mauer und Grenze zum Wedding. Bei Streifzügen zu den Grenzposten und zu den Lieblingskneipen des dem Alkohol ergebenen Onkels (das Wort "Trunkenbold" fällt) erobert er sich schon früh sein kleines Traumreich, vielen Einwohnern der DDR gleich, die Weltreisen im Schulatlas unternahmen. Der Witz des kleinen Romans ist nun die Überblendung mit der Zeit nach der Wende: Matthias wird Immobilienmakler, spezialisiert auf sein einstiges kindliches Abenteuergebiet.

Längst kaufen Großinvestoren nicht einzelne Objekte, sondern ganze Karrees und letzte Brachen

Die Immobilienwirtschaft hat jüngst schon Ingo Schulze zu einem Schlüssel für die Systembrucherfahrung im Osten Deutschlands seit 1990 gemacht, in seinem Schelmenroman mit dem Helden Peter Holtz. Das ist ein sinnvoller Ansatz, denn was sich am schnellsten und sichtbarsten veränderte waren neben dem Arbeitsmarkt die Eigentumsverhältnisse: Privatisierungen, Rückübertragungen, Sanierungen, Aufwertung, Verkauf, Gentrifizierung - das Drama, das Berlin bis heute in Atem hält. Man könnte anhand einer einzigen Straße in Prenzlauer Berg den sozialgeschichtlichen Großvorgang nachzeichnen.

So weit geht Torsten Schulz nicht, sein Buch bleibt leichtfüßiger und privater. Wie ein Kindkönig versucht sein Matthias auf das Viertel, in dem er herummakelt, acht zu geben. Nicht jeder bekommt die gewünschte Wohnung, denn die Leute, die hierherziehen, sollten schon "passen". Das gibt Anlass zu einer Reihe von Binnennovellen mit vor allem weiblichen Biografien, dem Flugsand der Großstadt. Wir lesen die Schicksale von Nachbarn.

Ernster ist es dem Erzähler mit der Familiengeschichte seines Helden. Sie reicht, wie könnte es anders sein, zurück in die Nazi-Zeit und enthält die historisch naheliegenden Gelegenheiten zu Schuld und Rache. Familie und Geheimnis, das ist ja eigentlich ein und dasselbe Wort. Der Opa war in Sachsenhausen, als schon die Sowjets es als KZ weiterführten, weil er davor im Dritten Reich einen Kollegen angeschwärzt hatte, der nun seine Vergeltung übte. Der Vater wollte einmal in den Westen, indem er unter dem Grenzzaun hindurchkroch, dabei scheiterte und ebenfalls inhaftiert wurde. Auch Matthias hat ein dunkles Geheimnis, denn - aber das muss nicht verraten werden.

Matthias ist nämlich ein habitueller Lügner, und das hat mit irgendwelchen Systemen nichts zu tun. Er lügt aus Spaß, aus Bequemlichkeit, aus Feigheit und einfach so. Diese Lügenboldigkeit macht ihn zu einem amüsanten Zeitgenossen, aber auch zu einem einsamen Menschen, der sich auf nichts festlegen will. Fünfzig Jahre lang, bis 2016, verfolgt der Roman die Geschichte dieses Matthias, der zwischendurch auch ein paar internationale Erfahrungen sammelt, die ihn bis nach Los Angeles führen, der aber doch nie von seinen skandinavischen Wurzelgrund in Ostberlin loskommt. Am Ende muss er erkennen, dass sein Versuch, die Immobilienentwicklung an seinem Ort zu steuern, scheitert. Längst kaufen Großinvestoren nicht einzelne Objekte (Hinterhaus, links, Parterre), sondern ganze Karrees und letzte Brachen.

Blick ins Buch

Torsten Schulz gelingt seine Leichtigkeit, weil er mit dem Motiv der Flunkerei einen privaten Kontrapunkt zum systemischen Problem des Verrats in der Diktatur setzt. Als kleiner Lügner ist sein Matthias Weber eine - unbeabsichtigte? - Gegenfigur zu Ingo Schulzes Peter Holtz, dem Schelmen, der alles wörtlich nimmt und glaubt, erst den Sozialismus, dann den Kapitalismus. Matthias schummelt sich durchs Leben und die Regime, durch Geschäfte und Liebesaffären, und dabei bleibt er ein spielendes Kind, das nicht erwachsen werden mag. Sorgen müssen wir uns nicht um ihn machen, denn die vier kleinen Wohnungen, die er für sich selbst erworben hat, werden ihn bis zu seinem Lebensende nähren, von der Wertsteigerung ganz abgesehen.

Bleibt die Frage zu beantworten, die dem Leser dieser Rezension womöglich auf der Zunge liegt: Wen hast du nun lieber gelesen, Ingo Schulze oder Torsten Schulz? Antwort: Ich mag sie beide, aber Matthias Weber ist mir erheblich näher als Peter Holtz.

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